Alex. v. Humboldt, die Lebenskraft ꝛc. (Horen. I. Bd. 1795. 5. St. 90—96. Wieder abgedr. in A. v. Humb. Anſichten der Natur. 2. Ausg. Cotta. 1826.) Die Syracuſer hatten ihre Poikile wie die Athener. Vorſtellungen von Göttern und Heroen, griechiſche und italiſche Kunſtwerke bekleideten die bunten Hallen des Porticus. Unabläſſig ſah man das Volk dahin ſtrömen; den jungen Krieger, um ſich an den Thaten der Ahnherrn; den Künſtler, um ſich an dem Pinſel großer Meiſter zu weiden. Unter den zahlloſen Gemälden, welche der emſige Fleiß der Syracuſer aus dem Mutterlande geſammelt, war nur eines, das ſeit einem vollen Jahrhunderte die Aufmerkſamkeit aller Vorübergehenden auf ſich zog. Wenn es dem olympiſchen Jupiter, dem Städtegründer Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Ariſtogiton an Bewunderern fehlte, ſo ſtand doch um jenes Bild das Volk in dichten Rotten gedrängt. Woher dieſe Vorliebe für daſſelbe? War es ein gerettetes Werk des Apelles, oder ſtammte es aus der Malerſchule des Kallimachus her? Nein, Anmuth und Grazie ſtrahlten zwar aus dem Bilde hervor, aber an Verſchmelzung der Farben, an Charakter und Stil des Ganzen durfte es ſich mit vielen andern im Poikile nicht meſſen. Das Volk ſtaunt an und bewundert, was es nicht kennt, und dieſe Art des Volks begreift viel unter ſich. Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgeſtellt und ohnerachtet Syracus in ſeinen engen Mauern mehr Kunſtgenie umfaßte, als das ganze übrige meerumfloſſene Sicilien — ſo blieb der Sinn deſſelben doch immer unenträthſelt. Man wußte nicht einmal beſtimmt, in welchem Tempel daſſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es ward von einem geſtrandeten Schiffe gerettet, und nur die Waaren, welche dieſes führten, ließen ahnen , daß es von Rhodus kam. An dem Vorgrunde des Gemäldes ſah man Jünglinge und Mädchen in eine dichte Gruppe zuſammengedrängt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber nicht von dem ſchlanken Wuchſe, den man in den Statuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der ſtärkere Gliederbau, welcher Spuren mühevoller Anſtrengung trug, der menſchliche Ausdruck ihrer Sehnſucht und ihres Kummers, Alles ſchien ſie des Himmliſchen oder Götterähnlichen zu entkleiden und an ihre irdiſche Heimath zu feſſeln. Ihr Haar war mit Laub und Feldblumen einfach geſchmückt. Verlangend ſtreckten ſie die Arme gegen einander aus, aber ihr ernſtes trübes Auge war nach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmer umgeben, in ihrer Mitte ſchwebte. Ein Schmetterling ſaß auf ſeiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich, rund, ſein Blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er auf die Jünglinge und Mädchen zu ſeinen Füßen herab. Mehr Charakteriſtiſches war an dem Gemälde nicht zu unterſcheiden. Nur am Fuße glaubten einige noch die Buchſtaben ξ und ω zu bemerken, woraus man (denn die Antiquarier waren damals nicht minder kühn, als jetzt) den Namen eines Künſtlers Zenodorus, alſo gleichnamig mit dem ſpätern Koloß-Gießer, ſehr unglücklich zuſammenſetzte. Dem rhodiſchen Genius, ſo nannte man das räthſelhafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syracus. Kunſtkenner, beſonders die jüngſten, wenn ſie von einer flüchtigen Reiſe nach Corinth oder Athen zurückkamen, hätten geglaubt, alle Anſprüche auf Genie verläugnen zu müſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einer neuen Erklärung hervorgetreten wären. Einige hielten den Genius für den Ausdruck geiſtiger Liebe, die den Genuß ſinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er ſolle die Herrſchaft der Vernunft über die Begierden andeuten. Die Weiſeren ſchwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und ergötzten ſich im Poikile an der einfachen Compoſition der Gruppe. So blieb die Sache immer unentſchieden. Das Bild ward mit mannichfachen Zuſätzen copirt, in Reliefs geformt und nach Griechenland geſandt, ohne daß man auch nur über ſeinen Urſprung je einige Aufklärung erhielt. Als einſt mit dem frühen Aufgange der Plejaden die Schifffahrt ins ägäiſche Meer wieder eröffnet ward, kamen Schiffe aus Rhodus im Hafen von Syracus an. Sie enthielten einen Schatz von Statuen, Altären, Candelabern und Gemälden, welche die Kunſtliebe der Dionyſe in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den Gemälden war eines, das man augenblicklich für ein Gegenſtück zum rhodiſchen Genius erkannte. Es war von gleicher Größe, und zeigte ein ähnliches Kolorit; nur waren die Farben beſſer erhalten. Der Genius ſtand ebenfalls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit geſenktem Haupte, die erloſchene Fackel zur Erde gekehrt, der Kreis der Jünglinge und Mädchen ſtürzte in mannichfachen Umarmungen, gleichſam über ihm zuſammen. Ihr Blick war nicht mehr trübe und gehorchend, ſondern kündigte den Zuſtand wilder Entfeſſelung, die Befriedigung lang genährter Sehnſucht an. Schon ſuchten die ſyracuſiſchen Alterthumsforſcher ihre vorigen Erklärungen vom rhodiſchen Genius umzumodeln, damit ſie auch auf dieſes Kunſtwerk paßten, als der Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus zu tragen. Dieſer Philoſoph aus der Schule des Pythagoras, wohnte in dem entlegenen Theile von Syracus, den man Tycha nannte. Er beſuchte ſelten den Hof der Dionyſe, nicht, als hätten nicht geiſtreiche Männer aus allen griechiſchen Pflanzſtädten ſich um ſie verſammlet, ſondern weil ſolche Fürſtennähe auch den geiſtreichſten Männern von ihrem Geiſte raubt. Er beſchäftigte ſich unabläſſig mit der Natur der Dinge und ihren Kräften, mit der Entſtehung von Pflanzen und Thieren, mit den harmoniſchen Geſetzen, nach denen Weltkörper im Großen und Schneeflocken und Hagelkörner im Kleinen ſich kugelförmig ballen. Da er überaus bejahrt war, ſo ließ er ſich täglich in dem Poikile und von da nach Naſos an den Hafen führen, wo ihm ſein Auge, wie er ſagte, ein Bild des Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem ſein Geiſt vergebens ſtrebte. Er ward von dem niedern Volke und doch auch von dem Tyrannen geehrt. Dieſem wich er aus, wie er jenem freudig entgegen kam. Epicharmus lag entkräftet auf ſeinem Ruhebette, als der Befehl des Dionyſius ihm das neue Kunſtwerk ſandte. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des rhodiſchen Genius mit zu überbringen, und der Philoſoph ließ beide neben einander vor ſich ſtellen. Sein Blick war lange auf ihn geheftet, dann rief er ſeine Schüler zuſammen und hub mit gerührter Stimme an: „Reißt den Vorhang vor dem Fenſter hinweg, daß ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbelebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich über die innern Triebräder der Natur, über den Unterſchied der Stoffe geſonnen und erſt heute läßt der rhodiſche Genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nur ahnete. Wenn der Unterſchied der Geſchlechter lebendige Weſen wohlthätig und fruchtbar aneinander kettet, ſo wird in der unorganiſchen Natur der rohe Stoff von gleichen Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos häufte ſich die Materie und mied ſich, je nachdem Freundſchaft oder Feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Das himmliſche Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eiſen; das geriebene Electrum bewegt leichte Stoffe; Erde miſcht ſich zur Erde; das Kochſalz gerinnt aus dem Meere zuſammen und die Säure der Stüptärie ſtrebt ſich mit dem Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur, ſich zu dem Seinen zu geſellen. Kein irdiſcher Stoff (wer wagt es, das Licht dieſen beizuzählen?) iſt daher irgendwo in Einfachheit und reinem, jungfräulichem Zuſtande zu finden. Alles eilt von ſeinem Entſtehen an zu neuen Verbindungen und nur die ſcheidende Kunſt des Menſchen kann ungepaart darſtellen, was Ihr vergebens im Innern der Erde und in dem beweglichen Waſſer- und Luft-Oceane ſuchtet. In der todten unorganiſchen Materie iſt träge Ruhe, ſo lange die Bande der Verwandtſchaften nicht gelöſt werden, ſo lange ein dritter Stoff nicht eindringt, um ſich den vorigen beizugeſellen. Aber auch auf dieſe Störung folgt wieder unfruchtbare Ruhe.“ „Anders iſt die Miſchung derſelben Stoffe im Thier- und Pflanzenkörper. Hier tritt die Lebenskraft gebieteriſch in ihre Rechte ein; ſie kümmert ſich nicht um die demokritiſche Freundſchaft und Feindſchaft der Atome; ſie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur ſich ewig fliehen, und trennt, was in dieſer ſich unaufhaltſam ſucht.“ „Tretet näher um mich her, meine Schüler, und erkennet im rhodiſchen Genius, in dem Ausdruck ſeiner jugendlichen Stärke, im Schmetterling auf ſeiner Schulter, im Herrſcherblick ſeines Auges, das Symbol der Lebenskraft, wie ſie jeden Keim der organiſchen Schöpfung beſeelt. Die irdiſchen Elemente, zu ſeinen Füßen, ſtreben gleichſam, ihrer eigenen Begierde zu folgen und ſich mit einander zu miſchen. Befehlend droht ihnen der Genius mit aufgehabener, hochlodernder Fackel, und zwingt ſie, ihrer alten Rechte uneingedenk, ſeinem Geſetze zu folgen.“ „Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der Tyrann mir zur Auslegung geſandt; richtet Eure Augen vom Bilde des Lebens ab, auf das Bild des Todes. Aufwärts weggeflohen iſt der Schmetterling, ausgelodert die umgekehrte Fackel, geſenkt das Haupt des Jünglings. Der Geiſt iſt in andre Sphären entwichen, die Lebenskraft erſtorben. Nun reichen ſich Jünglinge und Mädchen fröhlich die Hände. Nun treten die irdiſchen Stoffe in ihre Rechte ein. Der Feſſeln entbunden folgen ſie wild, nach langer Entbehrung, ihrem geſelligen Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein bräutlicher Tag. — So ging die todte Materie von Lebenskraft beſeelt durch eine zahlloſe Reihe von Geſchlechtern, und derſelbe Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geiſt des Pythagoras, in dem vormals ein dürftiger Wurm im augenblicklichen Genuſſe ſich ſeines Daſeins freute.“ „Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du gehört haſt. Und Ihr, meine Lieben, Phradman und Skopas und Timokles, tretet näher und näher zu mir. Ich fühle, daß die ſchwache Lebenskraft auch in mir den irdiſchen Stoff nicht lange mehr zähmen wird. Auch er fordert ſeine Freiheit wieder. Führt mich noch einmal in den Poikile und von da ans offene Geſtade. Bald werdet Ihr meine Aſche ſammlen.“