Digitale Ausgabe – Übersetzung

Ein unveröffentlichter Brief von Alexander von Humboldt

Herr Hesse, der preußische Geschäftsträger in Mittel-Amerika, interessierte sich 1852, während seines Aufenthaltes in Guatemala, besonders für archäologische Erkundungen in diesem Teil unseres Kontinents und schickte dem preußischen König einen sehr interessanten Bericht über einige Ruinen und alte Denkmäler, die kürzlich dort entdeckt worden waren. Oberst Modesto Méndez, Stadthalter in Flores am Petén-Itzá-See, hatte im Februar und März 1848 die Ruinen von Tikal besucht. Die Berichte darüber, die er an die Regierung Guatemalas schrieb, wurden in der Gaceta de Guatemala am 16. April, am 18. und am 25. März 1848 veröffentlicht. 1852 besuchte er diese Ruinen (die sich etwa 15 Meilen nördlich von Flores, am Fuße der Sierra de Yucatán befinden) erneut, ebenso wie die von Dolores im Südosten von Flores. Es besteht kein Zweifel, daß dies dieselben sind, die Don Melchior Rodríguez Macariega 1695 sah. Herr Hesse traf sich in Guatemala mit Oberst Méndez, erhielt von diesem eine vollständige Beschreibung seiner Entdeckungen und machte für Dr. Ahrens, einen deutschen Arzt, der in jenem Land lebt, originalgetreue Kopien der Zeichnungen, die Méndez angefertigt hatte. Zur gleichen Zeit berichtete der belgische Ingenieur, Herr van de Gebuchte, aus Santo Tomás, von seinen Erkundungen entlang des Río Motagua und von den Ruinen und Monumenten, die er in Chapulco und in Chinamita entdeckt hatte. Herrn Hesses Bericht an den König beruhte auf dieser Mitteilung. Herr Dr. Ahrens fügte mit eigener Hand einige kritische Anmerkungen über die alten Monumente der ersten Bewohner (der Eingeborenen) in Mittel-Amerika hinzu. Der König, den solche Entdeckungen sehr interessieren, teilte das Ganze seinen geschätzten Freunden Alexander von Humboldt und dem Geographen Carl Ritter mit, und er ließ von den Zeichnungen Stiche herstellen, so daß wir in Kürze das gedruckte Dokument mit den Stichen (Illustrationen) erwarten können. Über Herrn Hesses Mitteilungen schrieb Alexander von Humboldt einen Brief an Dr. Ahrens in Guatemala, von dem uns ein in dieser Stadt ansässiger Deutscher freundlicherweise eine Übersetzung angefertigt hat. An Herrn Friedrich Ahrens, in Guatemala. Ich halte es für meine Pflicht, mein lieber Doktor, Ihnen meinen aufrichtigsten Dank in ein so schönes und weit entferntes Land zu schicken, das zu besuchen ich selbst leider nie das Glück hatte. Mein lebhaftes Interesse an den Denkmälern der amerikanischen Ureinwohner hat durch den Bericht unseres exzellenten preußischen Geschäftsträgers in Guatemala, Herrn Hesse, noch stark zugenommen, einen Bericht, dem Ihre gewiß mit größter Genauigkeit angefertigten Kopien kleiner Statuen, Reliefs und Inschriften beigefügt waren und Glanz verliehen. Der König, den sowohl der Bericht als auch Ihre Zeichnungen äußerst elaborierter und komplizierter Ornamente sehr interessierten, hat unseren berühmten Geographen, Herrn Carl Ritter, und mich von dem einen wie den anderen in Kenntnis gesetzt. Die bemerkenswerten Hieroglyphen neben den Reliefs, die manchmal senkrecht untereinander angeordnet sind, dann aber auch wieder getrennt übereinander, wie phonetische Zeichen, sind von besonderem Interesse. Handelt es sich vielleicht um Kalenderzeichen? Im Namen unserer gemeinsamen deutschen Heimat bitte ich Sie, weiterhin eifrig mit der Erforschung dieser mysteriösen Reliquien von Völkern fortzufahren, die, wie es scheint, von Norden nach Süden gezogen sind. Der Kalender der Chiapas war toltekisch. Und die Namen der zwanzig Tage seines Monats waren ganz andere als die Namen des aztekischen Kalenders. In Chiapas und Soconusco, wo ein Jahr aus 18 Monaten mit jeweils 20 Tagen bestand, dazu 5 weiteren Tagen (was dann insgesamt 365 Tage ergibt), waren die toltekischen Namen folgende: Tage der Tolteken Tage der Azteken Der 1. hieß Mox................................................... Cipacti 2 ......... Igh........................................................ Ehecatl 3 ......... Votan.................................................. Calli 4 ......... Ghaman............................................. Cuetzpalin 5 ......... Abagh................................................. Cokuatl 6 ......... Tox...................................................... Miquitzli 7 ......... Moxic.................................................. Mazatl 8 ......... Lambat............................................... Tochtli 9 ......... Mulu.................................................... Atl So werden sie in der Idea de una historia general de Nueva España von Berturni auf Seite 118 aufgeführt und in meinen Ansichten der Kordilleren (Oktav-Ausgabe, Band 1, III, Seite 386). Die monosyllabischen Namen, wie Mox, Igh, Batz, Mix, Chio etc., die alle Tagesnamen waren, klingen nicht amerikanisch, vielmehr ähneln sie dem Klang der monosyllabischen Sprachen Ostasiens. Es heißt, daß in den lateinischen Akten eines der Kirchenkonzile des 17. Jahrhunderts in Guatemala von diesem toltekischen Kalender und von Wotan als dem Anführer eines der ältesten emigrierten Völker die Rede ist. Angesichts der Tatsache, daß einer der Wochentage in Chiapas Wotan hieß, und dieses Wort ganz genau so klingt wie Wodan oder Odin, der skandinavische Anführer, der aus Asien kam und von dem das Wort Wodens-day, Wednesday bei den Engländern abstammt, und daß die Hindus den selben Tag Buddha-Tag nennen, sind alle Untersuchungen über den amerikanischen Häuptling, den skandinavischen Anführer oder den hinduistischen Heiligen Buddha, den Begründer des Buddhismus, von allergrößtem Interesse. Möglicherweise ist es für Sie ein Leichtes, über Priester oder Anführer der Indianer herauszufinden, ob die Ureinwohner etwas über den oben erwähnten Kalendernamen Wotan wissen, als einen gemeinsamen Vorfahren oder einen heiligen Mann. Mit größter Hochachtung und guten Wünschen für Ihr Wohlbefinden verbleibe ich, ihr ergebenster Diener, – (gezeichnet) – Alexander von Humboldt. Schloß in Potsdam, den 22. Juli 1853 – Postskriptum. – Noch einmal in meinem Werk Kosmos (Band III, Seite 485) nachlesend, habe ich dort alles gefunden, was den Namen Wotan betrifft. Das Kirchenkonzil, das den Namen Wotan erwähnt, war ein Provinzial-Konzil, über das der Bischof von Chiapas, Don Francisco Núñez de la Vega, in seinem Preámbulo de las constituciones diocesanas berichtet. Die zwanzig Bezeichnungen für die Tage sind die Namen der toltekischen Häuptlinge, unter ihnen die vier wichtigsten Wotan, Lambat, Beon und Chinax; ihre Namen standen immer am Beginn einer Reihe von fünf Tagen (wie der Sonntag). Die Mexikaner nannten ihre vier Jahreszeiten: Calli (Haus), Tochli (Kaninchen), Acatl (Saatzeit) und Tecpatl (Feuerstein oder Stein). Wotan war, den Überlieferungen von Chiapas und Soconusco zufolge, ein Engel aus dem Meer, der, nachdem er sich während einer großen Sintflut in einem Kanu gerettet hatte, das Menschengeschlecht erneuerte. Ixtlixochitl, oder wie er mit christlichem Namen hieß, Fernando de Alva, der älteste mexikanische Historiker aus dem XVII. Jahrhundert, berichtet in seinem historischen Manuskript, das bis heute in Mexiko aufbewahrt wird, daß es in Teopixca, einem Dorf von Teochixpan, eine Familie gibt, die behauptet, Nachfahren von Wotan zu sein. Der große Geist Teotl hatte Wotan geschickt, um Anahuac, Mexiko und Guatemala zu bevölkern. Der kühnen Hypothese von William Jones zufolge ist Buddha (der Planet Mars), der in West-Indien dem Mittwoch (miércoles) seinen Namen gab, dieselbe Person wie der oberste skandinavische Krieger Odin oder Woden, zu dessen Andenken die gotischen Stämme den Wednesday (Mittwoch) benannten. Es ist bemerkenswert, daß es bei den Tolteken einen Anführer desselben Namens gab, nach dem derselbe Tag benannt worden ist. Ist das reiner Zufall? Das frage ich mich seit vierzig Jahren. Möglicherweise leben noch heute Menschen des gleichen Namens unter den Eingeborenen von Chiapas und Soconusco. Ganz sicher ist die Koinzidenz einzigartig und interessant, daß der dritte Tag unserer Woche in drei verschiedenen Teilen der Welt von den Namen Wotan, Woden und Buddha abgeleitet ist, und es scheint die Zeit gekommen zu sein, einige kritische Daten zu diesem Thema zu sammeln. Leider ist das Werk Historia de la creación von Don Ramón Ordóñez nicht mehr auffindbar, und nur einige wenige Skizzen dieses Werkes wurden von Cabrera und dem Abbé Bourbourg veröffentlicht. Die Geschichte von Wotan wird also vorerst im historischen Dunkel bleiben; während die von Woden und Odin (als zwei verschiedenen Personen) durch die Informationen, die Munch in seinem Werk Det Norske Folks Historie gibt, schon bald kritisch beleuchtet werden wird. Daß die antiken Monumente in Yucatán und Guatemala, ebenso wie die Sprachen der Maya, Zotzil und Celdal, toltekischen Ursprungs sind, wurde kürzlich von Dr. Heller bewiesen, dessen Reisen durch Mexiko nicht nur einem botanischen, sondern auch einem archäologischen Interesse folgten. New-York Tribune, 18. Oktober. Gaceta de Costa-Rica.