Digitale Ausgabe – Übersetzung

Brief von Baron A. von Humboldt an den russischen Kapitänleutnant A. I. Butakoff

Der Aralsee ließ sich bis zum Jahr 1848 nur anhand einiger bekannter Landmarken in seiner Umgebung in den Karten verzeichnen. Weitere Anhaltspunkte lieferten Erkundungsmärsche entlang seines westlichen Ufers sowie in erster Linie Auskünfte, die man durch die Befragung von Kirgisen hatte gewinnen können. Der Sternenforscher Lemm wurde 1846 in die kirgisische Steppe entsandt, um die Lage der Orte zwischen der Festung Orsk und dem Fluß Syr-Darja mit den Mitteln der Astronomie zu bestimmen. Im Jahr darauf transportierte man den Schoner „Nikolai", gebaut nach dem Vorbild kaspischer Fischerboote, auf dem Landweg zum Aralsee, nachdem er zuvor in Einzelteile zerlegt worden war. Wieder zusammengesetzt, gelang es im Verlauf des Sommers 1847 mit Hilfe dieses Schoners lediglich, einen Teil der Ostküste auf einer Strecke von 70 Werst südlich des Syr-Darja zu erfassen, außerdem die dort gelegenen Inseln sowie einen Teil der Insel Kut-Aral. Während der ersten Hälfte des darauffolgenden Sommers fertigten zwei Topographen aus dem Offizierskorps auf dem Schoner „Nikolai“, Akischeff und Goloff, einen Plan der gesamten Nordküste an, von der Mündung des Syrs bis Kum-Suath. Außerdem waren die Topographen des Orenburger Korps im Verlauf einiger Jahre unablässig damit beschäftigt gewesen, eine wahrhaft kolossale wissenschaftliche Unternehmung zum Abschluß zu bringen: die Anfertigung einer vollständigen topographischen Übersicht der kirgisischen Steppe in ihrer gesamten Ausdehnung. Dennoch lag bis zum Jahr 1848 weder eine streng wissenschaftliche Beschreibung noch auch nur eine ungefähre kartographische Erfassung des Aralsees vor. Zu Beginn des Jahres 1848 wurde Kapitänleutnant A. I. Butakoff, wirkliches Mitglied der Kaiserlich-Russischen Geographischen Gesellschaft, zum Leiter der oben genannten Expedition zum Aral ernannt. Seinen „Notizen“ entlehnen wir diese Angaben. – Mit der Unterstützung des Leutnants Pospäloff, der Topographen Rybim und Christoforoff, des Feldschers Istomin, des Unteroffiziers Werner sowie weiterer, ihm zur Verfügung gestellter Personen erfüllte er seinen Auftrag hervorragend. In den Jahren 1848 und 1849 ermittelte er astronomisch die Lage zahlreicher Punkte, verfaßte eine ausführliche Beschreibung und verfertigte eine Mercator-Karte zu diesem bis dahin fast gänzlich unbekannten See. Die geologischen Mineralproben und Weiteres, das von Herrn Butakoff vor Ort gesammelt worden war, wurden von ihm an das Museum des Bergbauinstituts geschickt, Beschreibungen derselben an Baron von Humboldt gesandt. Außerdem wurden Herrn Fischer, dem damaligen Direktor des Kaiserlichen Botanischen Gartens, 75 Beispiele der Flora aus der Gegend um den Aralsee überlassen. Diese Arbeiten des Herrn Butakoff warfen ein neues Licht auf die Wissenschaften und erregten aufgrund ihrer Wichtigkeit und Bedeutung eine derartige Aufmerksamkeit, daß auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers eine Beschreibung des Aralsees im fünften Heft der Tätigkeiten der Geographischen Gesellschaft veröffentlicht wurde. Der Kapitän beim Generalstab Makschejeff, Teilnehmer der genannten Expedition, hat diese Beschreibung im Heft mit einer interessanten Abhandlung kommentiert. Abgesehen von diesem Kommentar, der ein Ergebnis der Arbeiten des Herrn Butakoff war, wurde dessen Karte vom Hydrographischen Departement beim Marineministerium herausgegeben und später, in verkleinertem Format, einer der Ausgaben der Geographischen Gesellschaft beigefügt. Schließlich sind im vorigen Jahr die neuesten Berichte zu Herrn Butakoffs Unternehmung gedruckt worden, und zwar annähernd zeitgleich in der ersten Nummer der Zeitschrift Der Bote der Kaiserlich-Geographischen Gesellschaft sowie im ersten Heft der Zeitschrift Vaterländische Notizen. Hier dürfte nun der richtige Platz sein, dem Leser Kenntnis eines Briefes zu geben, geschrieben von dem bekanntesten unter unseren europäischen Gelehrten der Gegenwart, Baron A. von Humboldt, an Herrn Butakoff. „Mein Herr! Ich bin tief gerührt von der Zuneigung, die Sie mir gegenüber hegen, die Sie offen ausgesprochen und zudem tatsächlich unter Beweis gestellt haben, indem Sie sich, in der Ruhe Ihrer gelehrsamen Abgeschiedenheit, an den Küsten des Aralsees, an mich, den nahezu vorsintflutlichen Greis, erinnerten. Mit innigem Mißvergnügen erfahre ich durch Ihren letzten, scharfsinnigen und liebenswürdigen Brief, daß die wenigen Zeilen, in welchen ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrückte, nicht in Ihren Besitz gelangt sind. Ich übergab diesen Brief einem Reisenden, der über Jekaterinenburg zum nördlichen Ural, vermutlich nach Nischni Tagil, hatte abreisen sollen. Durch Ihren letzten Brief vom 19. Februar bin ich zu meiner großen Befriedigung davon überzeugt worden, daß mein langes, wenn auch unfreiwilliges Schweigen Ihre Gefühle der Zuneigung zu dem alten Reisenden und seinen Arbeiten weder gemindert noch abgekühlt hat. Ich selbst habe einen Großteil meines Lebens dem Studium der maritimen Astronomie gewidmet, bin Georg Forsters Schüler und Kapitän Cooks Freund sowie begeistert von kühnen nautischen Unternehmungen. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des begrenzten Horizonts meiner eigenen Erfahrung, bleibt mir nichts, als Stolz zu empfinden über das Vertrauen, mit dem ich von einem Seefahrer gewürdigt werde, der mit Wagemut, kluger Berechnung und Energie so zahlreiche Schwierigkeiten überwunden hat, dabei weitgehend selbständig die Fahrzeuge gebaut hat, auf denen er seine Reisen unternahm, und die Geschichte geographischer Entdeckungen um eine so lange und schöne Seite bereicherte. Sie sind fürwahr im Glück, daß Sie in dieser Hinsicht noch keinen Vorgänger gehabt haben und daß Sie Ihren Namen mit Forschungen zu einem Gewässer verknüpfen konnten, dessen Name Erinnerungen an vorzeitlichen Handel auf dem Oxus wachruft. Außerdem können Sie sich glücklich schätzen, unter Anwendung zuverlässiger Mittel, welche die neuesten Wissenschaften und verbesserte Instrumente bieten, die Vermessung aller Küsten dieses weitläufigen Meeres zu Ende gebracht zu haben. Das sind wahrhaftige Entdeckungen auf dem Gebiet der Geographie. Anläßlich des letzten Besuches Seiner Majestät des Kaisers hatte ich hier die Gelegenheit, Seiner Majestät die ganze Bedeutung dieser unerwarteten Arbeit nahezubringen, die der Regierung Seiner Majestät noch mehr Glanz verleiht. Im Verlauf der gesamten Unterredung, die mir Seine Majestät gewährte, hörte er gnädig meine Meinung zu dem unbekannten Landstrich zwischen dem Aral und den Seen Issyk-Kule und Sajsan an, und ich hatte nicht den Eindruck, daß Seine Majestät meine aufrichtigen Worte als Schmeicheleien abtat. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen, um aufs Neue meine Dankbarkeit für die Übersendung der zwei Exemplare Ihrer vortrefflichen Karte des Aralsees auszudrücken, die Sie auf der Grundlage Ihrer eigenen astronomischen und geodätischen Untersuchungen angefertigt haben; ebenso danke ich für den interessanten „Bericht“, der den Karten beigelegt war. Ich beabsichtige, daraus einen Auszug für die bekannten Brockhaus-Journale anzufertigen. Schließlich danke ich Ihnen auch noch für Ihre zwei verbindlichen Briefe vom 3. Juni 1852 und vom 19. Februar 1853. Den Auszug, den ich in die Einleitung zur neuen Auflage meines Werkes Zentral-Asien einzufügen wünschte, haben Sie wahrscheinlich erhalten. Dieser Auszug war bereits abgefaßt und den 17. Januar 1852 an Brockhaus abgesandt, bevor mich Ihr Juni-Brief erreichte. Darin beabsichtigte ich, denjenigen herauszustellen, der all die Mühe selbst durchlitten, sein Leben Gefahren ausgesetzt und an Ort und Stelle gearbeitet hat, um ihn vor jenen auszuzeichnen, die lediglich die Werke anderer herausgeben können. Nur habe ich darin ein Unrecht gegen Sie begangen, indem ich unglücklicherweise und gewiß ohne üble Absicht Ihren Namen mit dem meines alten Freundes Lemm vertauscht habe.1 Ich wollte lediglich die erste Bestimmung des Längengrades für den Punkt am Westufer des Aralsees erwähnen, den Lemm anläßlich von General Bergs erster Expedition nach Khiva bei 45° 26′ Breite astronomisch auf 58° 30′ oder 58° 34′ Länge von Greenwich ermittelte. Ich erachtete einen derartigen Hinweis als wichtig, weshalb ich ihn sowohl im Anhang zu der von mir verfertigten Karte über Zentral-Asien als auch im Werk selbst (1. Band, S. 419 und 2. Band, S. 385) erwähnte. Sie bezeichnete jedenfalls einen Punkt, der auf Ihrer Karte Kara-Kummu (58° 38′ Länge) entspricht, auf derselben Breite wie Ustj-Jurta (v. H. dürfte wohl Karla-Kamak gemeint haben). Dieser Teil meines Auszuges wird entsprechend Ihrer vollkommen gerechtfertigten Anmerkung vollständig korrigiert werden. Ich beschließe meinen Brief mit dem Eingeständnis einer Schamlosigkeit, die Sie mir verzeihen müssen. Ein Exemplar der von Ihnen übersandten, vortrefflichen Karten habe ich Seiner Majestät dem König vorgelegt, ohne dabei seine Aufmerksamkeit auf das Verdienst dieser großartigen Arbeit lenken zu müssen. Seine Majestät haben gleichwohl geruht, den Kapitänleutnant der Königlich-Russischen Flotte, Alexej Butakoff, zum Ritter des Roten Adler-Ordens 3. Klasse zu ernennen, und beliebten, mich zu beauftragen, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihnen das Ordenszeichen durch unseren Gesandten in Sankt Petersburg übermittelt werden wird. Ich wünsche im Grunde meines Herzens, daß Ihnen dieser Beweis der Anteilnahme von Seiten unseres großzügigen, guten und edlen Königs, der Ihnen vom Besucher des südlichen Eismeers, der Kordilleren, Mexikos, Quitos, Perus, der Ufer des Orinoco und der Quellen des Irtysch mitgeteilt wird, willkommen sein werde. Seine Majestät zeigte besonderes Interesse an der Angabe in Eurem „Bericht“: daß sogar am nördlichen Aral, wo im Winter bis zu 20° Réaumur Kälte herrscht, Tiger im Schilf leben, ständig umherstreifen, Kirgisen und Pferde fressend, sofern sich dazu die Gelegenheit bietet. Diese nördlichen Tiger, von denen wir Felle mitbrachten, unterscheiden sich in der Tat in keiner Hinsicht von den Tigern in Bengalen und der gesamten warmen Zone Asiens. Sie erinnern an diese riesigen Löwen, die zu Aristoteles’ Zeit den ganzen Winter über in den kalten Regionen Mazedoniens lebten. Folglich gibt es auch Kolonien von Tierarten, die sich, ohne ihr Äußeres und ihren eigentümlichen Charakter zu verändern, an besonders niedrige Temperaturen gewöhnt haben. Ein sehr interessantes Faktum, das durch ausgegrabene Skelette bestätigt worden ist. Aus Anlaß des letzten Festes der Berliner Geographischen Gesellschaft, deren 25. Jahresfeier, wurden Sie auf meinen Antrag hin einstimmig zum Ehrenmitglied gewählt, ebenso Kapitän Sabine sowie Murchison und Raulinson. Dies ist ein etwas bedeutenderer Titel als der eines korrespondierenden Mitglieds, und ich beglückwünsche Sie dazu, mein Mitbruder! Empfangen Sie, etc. Alexander von Humboldt Sans-Souci, den 12. Juni 1853 P. S. Halten sich im Winter Tiger an den Küsten des Kaspischen Meeres auf? Mir ist es nicht bekannt.