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Brief des Barons von Humboldt an den Herrn Don Manuel de Guevara y Vasconcelos, Gouverneur und Generalkapitän der Provinz Caracas
Ich habe noch in lebhafter Erinnerung, wie Euer Gnaden mich beauftragten, Ihnen einige Aufzeichnungen über den Erfolg meiner Reise zum oberen Orinoco und zum Río Negro zukommen zu lassen: ich werde Euer Gnaden Wünschen so gut es mir möglich ist nachkommen; doch erlauben Sie mir zuvor, Euer Gnaden noch einmal meinen tiefen Respekt zu zollen und meinen herzlichsten Dank zu erneuern für die überaus gute Aufnahme in dieser Hauptstadt, die ich Euer Gnaden verdankte, außerdem für die gute Behandlung während meines Aufenthaltes dort, die ich ebenfalls Ihnen verdankte, sowie für den Schutz, den Euer Gnaden mir zu gewähren geruhte für alle Provinzen Ihres Herrschaftsgebiets; dieser Schutz hat tatsächlich überall die hilfreiche Wirkung gezeitigt, die ich mir von ihm versprechen durfte. Wenn die Arbeiten eines Naturforschers ihn vielen Entbehrungen und mannigfachen Gefahren aussetzen, dann trägt diese Reise schon ihren Lohn in sich, wenn die Regierenden der Wissenschaft zugeneigt sind und diejenigen ihrer Untertanen fördern, die sich ihr widmen. Wenn die Zeit gekommen ist, die Früchte meines Strebens zu publizieren, werde ich der Öffentlichkeit mitteilen können, mit wieviel Güte Euer Gnaden meine schriftstellerische Tätigkeit betrachtet haben, ohne weiteren Anreiz als Ihre natürliche Wohltätigkeit.
Wenn ich bis nach Maracaibo und in die Sierra Nevada von Mérida vorgedrungen wäre, könnte ich mir jetzt schmeicheln, bis an die äußersten Grenzen der riesigen und reichen Provinzen gelangt zu sein, die unter Ihrer Herrschaft stehen. Welche Vielfalt an Formen, von den Bergen von Paria bis zum Río Negro und La Esmeralda! Gegenden, die auf der einen Seite an Quito grenzen und auf der anderen an Cayenne und das wunderbare Amazonasbecken. Der am dichtesten bewaldete und fruchtbarste Teil dieses Kontinents liegt innerhalb dieser Grenzen; und wenn die landwirtschaftliche Nutzung jenseits des siebten Breitengrades derzeit noch nicht dem entspricht, was die Natur des Bodens erwarten läßt, so ist zu bedenken, daß die Menschheit sich der ersten Stufe der Vergesellschaftung nur sehr langsam annähert; ist diese aber einmal erreicht, belebt sich die Welt mit enormer Geschwindigkeit.
Im letzten Brief, den ich Euer Gnaden, zusammen mit einer Sammlung von Naturprodukten für das Madrider Kabinett, aus Valencia geschickt hatte, habe ich Ihnen die Gründe dargelegt, die mich dazu brachten, nicht durch Barinas und über den Río de Santo Domingo in den Apure vorzustoßen. Die Zeit der Winde ausnutzend, bin ich in erstaunlichem Tempo den Orinoco hinaufgefahren und mit der enormen Kraft der Strömung wieder hinunter, 360 Meilen in weniger als 20 Tagen, die Zeit, in der ich mich in den Dörfern aufhielt, nicht mitgerechnet. Als ich meine Messungen mit denen des berühmten La Condamine verglich, die dieser im Amazonasgebiet gemacht hatte, zeigte sich, daß dieser Fluß an seiner Mündung breiter ist als der Orinoco; daß letzterer jedoch den gleichen Rang beanspruchen darf, wenn es um die Wassermenge geht, die er bereits im Inneren des Kontinents führt. Mehr als 200 Meilen vom Meer entfernt fließt der Orinoco, ohne Inseln zu bilden, mit einer Breite von sechs- oder siebentausend Ellen [varas].
Von Valencia aus haben wir das gesamte Tal durchquert, das die Küsten-Kordillere vom Orinoco trennt: wir kamen durch Güigüe, San Luis de Cura und durch Calabozo bis nach San Fernando de Apure. Der Staub, die Hitze der Sonne, die in der Rückstrahlung vom Boden bis zu 38 Grad Réaumur erreichte, und das Fehlen von sauberem Wasser haben uns auf diesem Weg sehr leiden lassen. Die Ebene liegt nicht mehr als 76 Ellen über dem Meeresspiegel, Buenavista liegt auf 1.859, die Lagune von Valencia auf 494 und San Juan de los Morros, in dessen Nachbarschaft es Kupfervorkommen gibt, die große Aufmerksamkeit verdienen, liegt 896 Ellen hoch. Dieses Niveau der Ebene wird es eines Tages, wenn die Provinz besser erschlossen sein wird, gestatten, einen Wasserweg von Valencia bis nach Guayana auf dem Río del Pao zu eröffnen, der früher in die Lagune gemündet ist, sich jetzt aber mit den Flüssen Tinaco, Guanarito und Chelua vereinigt, seine Wasser sodann mit denen der Portuguesa und schließlich mit denen des Apure und des Orinoco vereinigt. Dieser Weg könnte in Kriegszeiten sehr interessant sein, wenn die Freibeuter die Schiffahrt oder Transporte von Puerto Cabello nach Angostura behindern.
In Calabozo lebt ein recht glückloser Mensch, allerdings von großem Talent, Mechaniker und ziemlich gut unterrichtet in experimenteller Physik. Der Unterbevollmächtigte für die Tabakerträge, Don Carlos del Pozo, hat mit eigenen Händen, ohne je etwas Ähnliches gesehen zu haben, in Calabozo eine elektrische Maschine konstruiert, die sich mit den besten, die ich in Spanien oder Frankreich gesehen habe, messen kann. Ich brauche über seine Talente nichts weiter zu sagen, denn ich weiß, daß Euer Gnaden ihn schon unter Ihren gnädigen Schutz gestellt haben.
In den Apure-Ebenen haben wir sehr kuriose Versuche mit der Kraft der Zitteraale angestellt, sechs oder sieben von ihnen haben in wenigen Minuten zwei Pferde getötet. Die Ergebnisse dieser Versuche sind ganz neu und stehen im Gegensatz zu dem, was wir, wegen des Fehlens feiner Meßinstrumente in diesem Teil Amerikas, bisher in Europa angenommen hatten. Dieser Fisch ist nicht geladen mit Elektrizität, sondern mit jenem neuen galvanischen Fluidum, von dem ich Euer Gnaden schon mehrmals berichtet habe und über das ich in meinem Werk über die Nerven und die Prinzipien der Lebenskraft geschrieben habe.
In San Fernando de Apure haben wir den Schwager des Herrn Gouverneurs von Barinas, Hauptmann Don Nicolás de Soto, getroffen, der entschlossen war, uns zu unseren Arbeiten am Casiquiare und am Río Negro zu begleiten. Dort haben wir eine Piroge mit dem wenigen Proviant beladen, den wir auftreiben konnten, und eine mehr als 700 Meilen lange Flußfahrt begonnen. Wir sind den Apure hinab-, in den Orinoco hinein- und diesen dann Richtung Süden bis zum vierten Breitengrad hinaufgefahren, mitten durch die Gefahren und epidemischen Fieber in der Zone der Stromschnellen oder Katarakte von Maypures und Atures. Als wir am Palmsonntag von der Insel Pararuma abfuhren, wo über 400 Indianer zum Einsammeln von Schildkröteneiern zusammengekommen waren und in der Mitte des Flusses ein Lager aufgeschlagen hatten, als wir also diese Insel verlassen hatten, sind wir nur knapp einem fatalen Schiffbruch entgangen. Eine Windböe warf die Piroge so herum, daß sie bereits zu mehr als einem Drittel mit Wasser gefüllt war. Ich sah meine Bücher und Manuskripte davonschwimmen. Ganz verzweifelt bereiteten wir uns darauf vor, ins Wasser zu springen, obgleich die Breite des Flusses und die Grausamkeit so vieler Kaimane uns wenig Hoffnung ließen, als, wie durch eine besondere Gnade des Himmels, derselbe Wind unser Segel wieder füllte und uns aufrichtete. Bis auf einige verlorene Papiere konnte das meiste gerettet werden.
Jenseits von Carichana sieht man nur noch hohes Bergland und undurchdringliche Wälder. Das Gelände steigt stark an, und von San Fernando de Atabapo oder von der großen Ebene zwischen dem Río Negro und dem Casiquiare, fällt der Fluß bis nach Urbana um 414 Ellen. Am vierten Breitengrad haben wir den Orinoco verlassen, dessen Lauf sich von dort nach Osten Richtung Esmeralda und zum Bergland von Cayenne fortsetzt, und haben den neuen Landweg zum Río Negro gesucht, sind weiter Richtung Süden auf den kleineren Flüssen Atabapo, Tuaminí und Temi gefahren, eine wirklich außergewöhnliche Fahrt, denn wegen der Dichte des Waldes war es notwendig, mit der Machete einen Kanal freizuschneiden, um passieren zu können. Von dem Dörfchen Yavita, das sich am zweiten Breitengrad befindet, wurde unser Boot drei Tage lang von zwanzig Indianern durch die Berge gezogen, während wir zu Fuß folgten. Wir schifften uns erneut auf dem schmalen Lauf des Pimichin ein, der uns mit seinen 89 Kurven schließlich zum Río Negro oder Guaynía brachte, sehr nahe an deren Ursprung. Hier endet die unerträgliche Plage durch Moskitos, „Zancudos“ und „Tempraneros“, und unter einem dunklen und melancholischen, aber durchaus gesunden Himmel genießt man die wunderbarste Frische. Das Réaumur-Thermometer zeigt fast immer, so wie in Caracas, 18 oder 19 Grad. Scheint die Sonne jedoch zwei Tage in Folge von einem wolkenlosen Himmel herab, dann versengt sie alles in afrikanischer Hitze.
Wir fuhren den Río Negro hinunter bis zum äußersten Ende beziehungsweise bis zum Fort San Carlos, wo uns der Kommandant Don Juan Escobar aufnahm und wo wir auf verschiedene portugiesische Schiffe stießen, die, mit Indigo und Reis beladen, von Gran Pará kommend den Amazonas hinaufgefahren waren. Hier in San Carlos und zwei Meilen von hier entfernt auf dem Felsen Culimacón hatte ich das Glück, einige astronomische Beobachtungen machen zu können, die für Euer Gnaden und den königlichen Dienst von einigem Interesse sein könnten. Die Äquinoxiallinie sollte die Grenze zwischen den portugiesischen Besitzungen und denen der spanischen Krone sein, und entsprechend der Karte seiner Exzellenz, des Herrn de Solano, veröffentlicht von Padre Caulín, liegt das kleine Fort von San Carlos direkt bei 51 Minuten nördlicher Breite, und die Linie verläuft zwischen San Carlos und dem portugiesischen Fort San José de Maravitanos. Ohne Zweifel liegt in diesem wichtigen Punkt ein Irrtum vor. Ein Irrtum zum Nachteil der spanischen Regierung, aber sehr verzeihlich zu den Zeiten von de Solano, da dieser Offizier nie bis zum Río Negro hinaufgefahren ist, denn seine Verpflichtungen hielten ihn in San Fernando de Atabapo fest, dessen Verortung sich bis auf vier Grad mit meinen Messungen vom 29. April und 11. Mai deckt. Das Fort San Carlos liegt auf einem Grad 53 Minuten nördlicher Breite, und die Insel San José sowie der Felsen Gloria de Cocuy, an denen derzeit die Grenze verläuft, liegen mehr als 32 Meilen entfernt von der Äquatorlinie. Aber laut den Angaben, die ich von den Portugiesen über die Entfernungen und Biegungen des Flusses erhalten habe, müßte die Linie ganz nahe bei oder sogar südlich von San Gabriel de las Cachuellas verlaufen, was bedeutet, daß eben jenes Fort von San José de Maravitanos und ganz sicher auch die portugiesischen Dörfer San Bautista, Nuestra Señora de Guía, San Felipe, Calderón, San Joaquín, San Miguel und die Wälder von Puchey sowie alle Tiere aus dem Río Guaviare sollten eigentlich der spanischen Krone gehören: ein Gebiet, das von Ordensleuten verwaltet wird und überaus reich an Indigo, Reis und Kaffee ist. Das Mißtrauen der portugiesischen Regierung, die den Spaniern aus San Carlos zur Zeit nicht gestattet, in diesem Gebiet an Land zu gehen, hat es mir nicht erlaubt, mit meinen Instrumenten weiter vorzudringen um irgendeinen Markierungsstein an der Stelle zu hinterlassen, an welcher der Äquator wirklich verläuft. Mir scheint, ein Monarch, der so ausgedehnte und weitläufige Kolonien besitzt, braucht diese nicht um ein Gebiet von 30 oder 40 Meilen zu erweitern, aber es ist unbedingt notwendig, sich klar zu machen, daß das, was ihnen verloren gehen würde, mehr wert ist als das gesamte gegenwärtige Gebiet des Río Negro, in dem nicht mehr als die 750 befriedete Indianer der vier Dörfer Moroa, Toma, Davique und San Carlos leben. Es wäre auch sehr nützlich, mehr darauf zu achten, die Grenzen im Osten zu schützen, denn die Portugiesen fahren gegenwärtig, ohne von der Grenze aus bemerkt zu werden, die Flüsse Cababuri, Baria, Pacimoni und Joyapa bis in die Lagune von Moyapa und nach Esmeralda hoch, also mehr als 60 Meilen in die spanischen Gebiete hinein. Sie suchen dort nach der kostbaren Sarsaparilla, deren Qualität dort viel höher ist als anderswo und die einen der Handelszweige im Gran Pará bildet.
Und obgleich es unwahrscheinlich ist, daß man sich unter den gegenwärtigen politischen Gegebenheiten um derlei Angelegenheiten kümmern kann, ist es dennoch immer nützlich, wenn eine Regierung über die wirkliche Situation und ihre legitimen Grenzen genau informiert ist. Vom Fort San Carlos sind wir über den Casiquiare nach Guayana zurückgekehrt, einen wasserreichen Seitenarm des Orinoco, der eine Verbindung zwischen diesem und dem Río Negro schafft. Die Kraft der Strömung, die riesige Menge an Moskitos, Feuerameisen und die Unbewohntheit des Gebiets machte diese Reise zugleich schmerzhaft und gefahrenreich. Ich reiste auf dem Orinoco bis nach Esmeralda, der letzten spanischen Siedlung im Osten, umgeben von wilden Ureinwohnern, die sich vom Harz des Caraña-Baums ernähren, und die in einer wunderbaren Savanne voller Pinien am Fuße des Duida-Massivs gelegen ist, dessen majestätische Formation der Gegend etwas überaus Pittoreskes verleiht. Die Smaragde von dort sind nichts als von Kupfer gefärbte Bergkristalle, doch der Duida-Berg zeigt viele Anzeichen interessanter Mineralien. Seine Höhe beträgt 3.043 Ellen über dem Meeresspiegel, und er ist der einzige Vulkan in diesem Binnenland, mit Ausbrüchen in den Monaten Dezember und Januar. Die Quellen des Orinoco scheinen nahe seiner östlichen Flanke zu liegen; aber der Stamm der Guayca, sehr geschickte Bogenschützen, obwohl von kleiner Gestalt (ich sah einige, die kaum größer als vier Fuß zwei Zoll waren), verhindern, daß die Spanier den Fluß über die Guajarivos-Schnellen hinaus befahren können, die sich 25 Meilen entfernt von Esmeralda befinden.
Auf derselben Seite befindet sich auch die Laguna del Dorado, ein See der wenig Wasser führt, mit einigen Inseln aus Talkstein, die den Tod so vieler Individuen nicht wert sind, welche der Habgier und der Leichtgläubigkeit zum Opfer fielen. Nachdem wir uns bei den Carapa-Indianern ausführlich über die Herstellung von Curare, dem stärksten bekannten Pflanzengift, informiert hatten, folgten wir dem gewaltigen Verlauf des Orinoco bis La Angostura, wobei wir voll Kummer mitansehen mußten, wie uns viele Affen und Vögel wegstarben, je näher wir der Küste kamen. In einer sehr kleinen, mit 14 Personen beladenen Piroge hatten sie uns die Fahrt recht beschwerlich gemacht.
Und so beendeten wir eine Reise von über 900 Meilen, von unserem Aufbruch in Caracas aus gerechnet. Mehr als drei Monate haben wir nur an den Flußufern geschlafen oder in den dichtesten Wäldern, immer das Brüllen des Jaguars im Ohr, gegen dessen Angriffe wir uns durch das Feuer schützten, das wir um unsere Hängematten herum anzündeten. Die Luftfeuchtigkeit läßt allen Proviant, den man mit sich führt, verfaulen, so daß unsere Nahrung aus Bananen, Reis, Fisch und mehr als steinharten Tapiokafladen bestand. Die Moskitos und Milben, die Unmenge an Ameisen und Sandflöhen, erhitzen und reizen das Blut auf so unerträgliche Weise, und obwohl sich der Körper an den Ufern der wasserreichen Flüsse nach einem Bad sehnt, kann er sich nicht erfrischen wegen der blutrünstigen Kaimane, Rochen, Zitteraale und Wasserschlangen oder Anakondas. Auch die beste Plane einer Piroge kann gegen die Kraft der Wolkenbrüche, die im äquatorialen Bergland jede Nacht herunterkommen, nichts ausrichten. Weil die wilden Indianer die Missionen meiden, fährt man zehn oder zwölf Tage auf den Flüssen und begegnet keinem Lebewesen außer Seiden- und Kapuzineräffchen, Nonnenpapageien oder Jaguaren; doch alle Anstrengungen geraten in Vergessenheit angesichts eines solchen Reichtums der Natur. Der Ertrag dieser Reise war größer, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte. Wie viele neu entdeckte Pflanzen und Tiere gibt es in diesem Gebiet! Wie interessant ist es für den denkenden Menschen, die verschiedenen Kulturstufen zu vergleichen, auf denen sich die Menschheit befindet: von den umherziehenden Stämmen am Meta, die Erde und Ameisen essen, bis zu den zivilisiertesten unter den wilden Indianern, den Piravas vom Stamm der Curacicaner), die mehrere Arten von Baumwolle weben, welche sie zu den Missionen bringen, um dafür Messer und Angelhaken zu bekommen! Und wie viele astronomische Beobachtungen konnte ich anstellen in einem Land, in dem die Geographie sich noch ebenso in ihrem Kindheitszustand befindet wie in den entlegensten Gegenden Afrikas! Wenn man meine Arbeiten mit denen von La Condamine im Amazonasgebiet, von Ulloa und dem großen Don Jorge Juan in Quito sowie mit allen Daten, die in Cayenne, Surinam und kürzlich (auf Befehl seiner Majestät durch Don Joaquín Hidalgo) hier an der Küste bis Cartagena erhoben wurden, zusammenfügen würde, könnte man daraus eine ziemlich genaue Karte von Südamerika nördlich des Marañón konstruieren, das heißt von dem Teil, der die reichsten Kolonien der Krone umfaßt.
Zu Zeiten der Jesuitenpater florierten die Missionen am Orinoco bis zu den Stromschnellen sehr stark durch den Handel mit Santa Fé. In Dörfern, die heute 60 bis 70 Einwohner zählen, lebten damals 600 bis 700. Der Handel über den Río Meta, von dessen Mündung man in sechs Tagen in der Provinz Casamare und in 22 Tagen am Hafen von Pachaguero ist, der wiederum sechs Tage von der Hauptstadt Santa Fé entfernt liegt – dieser Handel war damals frei und sehr aktiv. Als die argwöhnischen Händler aus Cartagena sahen, daß Waren aus Guayana eingeführt wurden, unterbanden sie diesen Handelsweg. Der Orinoco wird einen großen Aufschwung nehmen, wenn man diesen Weg eines Tages zumindest bis zur Provinz Casamare und zu den Missionen von Macuto und Sutimena wieder eröffnet, denn sie sind zu weit entfernt von Cartagena, um von dort das zu erhalten, was man in sieben Tagen über den Orinoco bekommen kann. In den Provinzen Alto Orinoco und Río Negro hat man derzeit nichts als etwas verfaultes Fleisch, das aus La Angostura nach San Carlos gebracht wird, und das, obwohl es in Maypure, San Fernando de Atabapo, Santa Bárbara und vor allem in Esmeralda und den wunderbaren Tälern Padamo und Venturay nicht an Grasland zur Viehzucht mangelt.
Die Jesuitenpater hatten allein in Carichana und Atures 40.000 bis 50.000 Rinder. Zu Zeiten der Iturriaga-Expedition transportierte man Rinder nach Alto Orinoco. Doch all das ist heute vorbei; mit Ausnahme einiger Rinder in Santa Bárbara gibt es derzeit im ganzen Gebiet von Alto Orinoco und Río Negro nicht mehr als zwölf Dörfer, in denen höchstens 1.500 Seelen leben; einige von ihnen sind Heiden, die also mit vier oder fünf Frauen verheiratet sind, je nach Reichtum und Wohlstand eines Hauses; 19 Dörfer, die zur Zeit von Centurión an dem noch sichtbaren Landweg von Esmeralda nach Castra lagen, sind verloren; ebenso die Niederlassungen von Erevato und Paraguamusi. Diese letzten Dörfer waren das Werk von Don Antonio Santos, einem außergewöhnlichen Mann, der alle Sprachen der Indianer sprach und der nackt und mit Onoto-Farbe bemalt unerkannt das Gebiet der kannibalischsten Indianer durchquerte, bis er auf dem Landweg von Angostura und Cantony Richtung Laguna del Dorado den Portugiesen in die Hände fiel, die ihn über den Río de Aguas Blancas zum Amazonas verschleppten. Kein Europäer war so tief in die entferntesten Gebiete dieses Kontinents eingedrungen; unschätzbare Informationen gingen mit ihm verloren.
Es besteht kein Zweifel, daß das kurze Stück des Río Negro, an dem heute die spanischen Missionen liegen, als Verbindung nach Gran Pará für die Portugiesen nützlicher wäre, als es für Seine Majestät ist. Es könnte eines Tages vielleicht gegen ein erstrebenswerteres Stück Land am Río de la Plata eingetauscht werden. Andererseits sollte man aber auch bedenken, daß hier, ohne Land zu veräußern und mit sehr geringem Kostenaufwand, die Möglichkeit besteht, den Schiffsweg durch den Río Negro stark zu verkürzen. Die Passage der Stromschnellen und die Überwindung des Río Casiquiare sind die beiden großen Schwierigkeiten, die dem entgegenstehen. Beide kann man mit Hilfe zweier Kanäle umgehen, von denen der eine die Flüsse Torapa und Camecí verbinden würde, wodurch man die Schnellen von Maypure vollständig umgehen könnte, der andere den Río Temy mit dem Pimichin. Ich habe aus diesem Grund das Terrain dieser Gegend vermessen. Der erste Kanal wäre nicht länger als 2.000 Ellen, der zweite 12.000. Die Kanäle könnte man in völlig ebenem Gelände graben, in dem es viele kleine Wasserläufe gibt, welche man sich leicht zu nutze machen könnte. Nach Fertigstellung dieser Arbeit müßte nie wieder ein Schiff durch den Casiquiare fahren und 14 Tage verlieren, oft sogar 24, wegen der Biegungen in diesem Flußlauf und im Orinoco.
Die Indianer in Alto Orinoco und vom Río Negro (unter denen es überaus hellhäutige Rassen gibt) sind ein ganz anderer Menschenschlag als jene an der Küste. Sie sind fleißig, scharfsinnig und leicht in Dörfern anzusiedeln. Es gibt auch keine Moskitoplage, die dieses Gebiet unbewohnbar machen würde. Auf der ganzen Fahrt durch den Río Negro, von den kleinen Flüssen Atabapo, Juamini und Tenuen, über den Orinoco selbst, nördlich der Schnellen und von Carichana, auf einer Entfernung von über 200 Meilen, gibt es nicht mehr Moskitos als in Caracas oder Cumaná. Wenn sie etwas weiter vom Fluß entfernt errichtet wären und der Wald ein wenig zurückgedrängt würde, gäbe es in diesen Orten sogar noch weniger. Die Luft ist gesund, und Fieber treten nur in den drei Dörfern Carichana, Maypure und Atures auf. Derzeit wird dort nichts weiter angebaut als Yucca und Bananen, aber auch ohne Kultivierung bringt die Natur wertvolle Früchte hervor. Am Casiquiare und in Alto Orinoco sowie an den Mündungen des Daracapo, des Amaguaca und des Geheta gibt es Wälder mit wildem Kakao. Die wenigen Kakaobäume, die am Río Negro angebaut werden, brauchen nicht mehr als vier oder fünf Jahre, um zu jeder Jahreszeit eine reiche Ernte an Früchten zu bieten. In den Dörfern Maroa, Jama und San Carlos gedeihen wilde Indigopflanzen auf allen Höfen, kultiviert werden die Pflanzen aber nur auf portugiesischem Gebiet. Zuckerrohr, Reis und Baumwolle gedeihen überall prächtig, wo man versucht hat, sie auszusäen. Der Kaffee vom portugiesischen Río Negro ist von höchster Qualität, und im Bergland von Padamo und Jea gibt es hochgelegene Flächen, auf denen man jegliches Obst oder Gemüse anbauen kann, das Kühle braucht. Der berühmte Andullo-Tabak gedeiht bestens am Orinoco, Guaviare und Guaynía. Das Maní, (eine Art Pech aus Caraña-Saft und verschiedenen aromatischen Harzen) und die Seile aus den Fasern der Chiquichiqui-Palme sind sehr beliebte Objekte, die sich bei den Schiffern größter Beliebtheit erfreuen. Diese Seile sind leichter, in Süßwasser haltbarer und sechzig Prozent billiger als Hanfseile. Ein Seil von 66 Ellen Länge und einem Durchmesser von sechs Zoll kostet in Guayana 25 Pesos und am Río Negro 13. Ich muß wohl nicht all die Harze und die medizinisch wertvollen Pflanzen hinzufügen. Das Sassafras-Öl, die Milch der Pendose (ein sehr feiner Lack), die Rinde des Weißgummibaums aus Caura, die Chinarinde aus Caroní, die Sarsaparilla, die Paranuß oder die Mandeln aus Esmeralda, der Zimt, der Morima (ein Baum, aus dessen Rinde Hemden gemacht werden, ähnlich den Tüchern aus Tahiti), das elastische Harz oder der Dapiche, von dem wir am Pimichin eine neue, weiße Spezies entdeckt haben. So viele farbige Gehölze, feine Hölzer für Möbel. Jahrhunderte werden vergehen, bis die Menschheit all die Güter zu nutzen versteht, mit denen die Natur die Besitzungen Seiner Majestät bereichert hat. Und Wohlstand im Inneren eines Kontinents kann man vernünftigerweise nicht erwarten, solange nicht alle Küstengebirge bewohnt sind.
Ich entschuldige mich nicht bei Euer Gnaden, Ihnen anstatt eines Briefes einen Bericht in meinem preußischen Spanisch geschrieben zu haben. In Angelegenheiten, welche die Verwaltung der riesigen Provinzen Ihres Herrschaftsgebiets betreffen, werden Euer Gnaden sich nicht über meine Weitschweifigkeit ärgern: wenn ich irgend einen Fehler gemacht haben sollte, habe ich das in dem Glauben getan, die Befehle zu befolgen, die Euer Gnaden mir wiederholt erteilt haben, und die mir um so heiliger sind, als ich mir schmeichle, daß ihre Erfüllung und meine Mitteilungen ein wenig zum allgemeinen Nutzen und zum Wohle dieser Kolonien beitragen können. – Dank der besonderen Gunst, die Euer Gnaden uns mit Ihrem Empfehlungsschreiben erwiesen haben, sind wir überall großzügig aufgenommen worden, besonders in den Missionen der ehrwürdigen Padres. Der Herr Gouverneur von Guayana hat sich uns gegenüber äußerst zuvorkommend gezeigt, als wir in La Angostura mehr als drei Wochen durch Fieber und Erbrechen aufgehalten wurden, die uns infolge der anstrengenden Reise heimgesucht hatten. Auf dem Rückweg von Guayana nach Cumaná haben wir hier in Barcelona Halt gemacht, wo wir Tag für Tag den freundschaftlichen Umgang mit dem Herrn Kommandanten Don Ramón Correa genießen durften. Wir planen, übermorgen auf dem Landweg von hier nach Cumaná zu reisen, wo wir die erste sich bietende Gelegenheit nutzen werden, um nach Havanna überzusetzen. Mein Gefährte Herr Bonpland schließt sich den Bekundungen meiner Verehrung an und bittet Euer Gnaden, diese an den Herrn Vertreter des Königs, den Herrn Intendanten, den Herrn Regenten, an Don Lorenzo Ros und Gemahlin sowie an meinen Freund Liendo weiterzugeben. Wo auch immer wir uns befinden sollten, werden wir stets die große Gunst und Protektion, die Euer Gnaden uns erwiesen haben, im Gedächtnis behalten; sie haben entscheidend zum glücklichen Ausgang meiner Unternehmungen beigetragen. Der Herr bewahre Euer Gnaden noch viele Jahre. –
Nueva Barcelona, 23. August 1800. –
Ich küsse Euer Gnaden die Hände etc. –
Baron von Humboldt –
Herrn Don Manuel de Guevara y Vasconcelos.
(Diario de La Habana.)