Digitale Ausgabe – Übersetzung

Bericht von Herrn von Humboldt in der Académie Royale des Sciences, Sitzung vom 9. Mai 1825, über das Tableau des corps organisés fossiles von Herrn Defrance

Die Akademie hat mich beauftragt, Ihnen über das Werk von Herrn Defrance mit dem Titel Tableau des corps organisés fossiles, précédé de remarques sur leur pétrification [Tafel der fossilen organischen Körper, mit Vorbemerkungen zu ihrer Versteinerung] zu berichten. Wäre mir die Ehre zuteil geworden, der Sitzung beizuwohnen, in der ich mit diesem Bericht beauftragt wurde, hätte ich darauf hinweisen müssen, daß mein Name bereits auf den ersten Seiten des Buches von Herrn Defrance genannt wird, und dies in einer Weise, die, wenngleich nicht an der Aufrichtigkeit, so doch zumindest an der Unvoreingenommenheit meiner Meinung hätte Zweifel aufwerfen können. Ich hätte diese Aufgabe sogar noch nachträglich abgelehnt, wenn ich mich nicht bei dem Urteil, das ich über diese wichtige Arbeit zu fällen habe, sozusagen davon entbunden fühlte, meine eigenen Ideen darzulegen. Um das Verdienst dieser Tafel der fossilen organischen Körper, die in vor und nach der Kreide gebildeten Formationen eingeschlossen sind, deutlich zu machen, genügt es beinahe, wörtlich aus dem großen Werk über die Geognosie der Umgebung von Paris zu zitieren, welches die Herren Brongniart und Cuvier veröffentlicht haben und worin sie häufig die Gelegenheit ergreifen, die Beobachtungen von Herrn Defrance lobend hervorzuheben. Unter den verschiedenen Beweisen für die Identität der Formationen in den voneinander entferntesten Weltgegenden wurde einer der überzeugendsten mit Hilfe der Zoologie erbracht; es ist die Identität der organischen Körper in ähnlicher Lagerung. Zu dieser Art von Beweisen führende Forschungen haben den Scharfsinn der Gelehrten in besonderer Weise herausgefordert, seit die Herren de Lamarck und Defrance damit begonnen haben, die fossilen Muscheln der Umgebung von Paris zu bestimmen. Schon Lister hatte vor mehr als 150 Jahren die Behauptung aufgestellt, jede Gebirgsart sei durch unterschiedliche fossile Muscheln charakterisiert; und zum Beweis dafür, daß die Muscheln unserer Meere und Seen spezifische Unterschiede zeigen, fügt er hinzu, daß zum Beispiel die letzteren, die Fossilien aus den Steinbrüchen von Northamptonshire, zwar sämtliche Eigenschaften unserer Murex, unserer Tellina und unseres Trochus aufwiesen, aber daß Naturforscher, die nicht bei den ungefähren und allgemeinen Erscheinungsbildern der Dinge Halt zu machen pflegen, feststellen würden, daß diese fossilen Muscheln spezifisch verschieden seien von sämtlichen Muscheln unserer heutigen Welt. Fast zur gleichen Zeit unterschied Steno als erster Gesteinsschichten, die sich erhärtet hatten, bevor es Pflanzen und Tiere gab (und die nie organische Reste enthalten), von solchen Sedimentsschichten, die jene bedecken und mit derlei Resten angefüllt sind, turbidi maris sedimenta sibi invicem imposita [wechselweise aufeinander geschichtete Ablagerungen des stürmischen Meeres]. Steno nimmt an, daß jede sekundäre Gesteinsbank die Niederschlagsschicht einer wässerigen Flüssigkeit darstellt: so rechnet er nach Art einiger moderner Geologen dem Boden der Toskana sechs große Naturepochen zu (sex distinctae Etruriae facies ex praesenti facie Etruriae collectae [sechs verschiedene Erscheinungen Etruriens, die sich aus der gegenwärtigen Erscheinung Etruriens ergeben haben]), in denen das Meer periodisch den Kontinent überschwemmt oder sich in seine alten Grenzen zurückgezogen hat. Er entwickelt am Ende des 17. Jahrhunderts sogar ein System, das dem von Deluc ganz und gar ähnlich ist und die Neigung der zunächst horizontalen Schichten wie die Bildung der Täler durch longitudinales Nachgeben erklärt. Italien, das Land, das seit fünf Jahrhunderten einen so glanzvollen Anteil an jeglichem Fortschritt der Wissenschaft, des Geisteslebens und der Künste hat, liefert uns auch die ersten großen Erkenntnisse über das Alter der Formationen. Darstellungen, die nur auf wenigen, rein lokalen Beobachtungen beruhten, blieben lange Zeit unbeachtet, und erst in unserer Zeit konnten Zoologen und Geognosten sich gegenseitig unterstützen, weil die Geognosten nicht länger der beschreibenden Naturgeschichte fern blieben und die Zoologen begannen, sich mit der positiven Geognosie zu beschäftigen. Vor dem Jahr 1798 hatte Herr Defrance, der bei Caen wohnte, sich mit lebhaftem Interesse jenen Gebilden gewidmet, deren Formation zum Teil der Kreide vorausgegangen war. Später, in der Nähe von Paris, beschäftigte er sich erfolgreich mit mehreren Gegenständen der Meteorologie und der Physik der Pflanzen: mit außerordentlichem Fleiß sammelte er innerhalb kurzer Zeit nahezu 600 Arten fossiler Muscheln in der Umgebung von Grignon. Eben diese Muscheln sind in einer berühmten Abhandlung über die Versteinerungen in der Umgebung von Paris beschrieben, die Herr de Lamarck veröffentlicht hat. Das Muséum d’histoire naturelle [Museum für Naturgeschichte] ließ die Hälfte der von Herrn Defrance in Grignon zusammengetragenen Arten für seine Velin-Sammlung malen. Herr Brongniart zitiert anerkennend den Befund von Herrn Defrance, daß in der Kreide der Umgebung von Paris nicht eine einzige einschalige Muschel mit einfacher und regelmäßiger Windung gefunden wurde, und fügt hinzu, dies sei um so bemerkenswerter, als einschalige Muscheln in großer Menge einige Meter über der Kreide, ebenfalls in Kalkschichten, jedoch von anderer Struktur, zu finden seien. Die von Herrn Defrance dem Tableau des corps organisés fossiles vorangestellten Bemerkungen beziehen sich nicht nur auf den Pariser Boden, sondern betreffen auch einen Teil der Formationen unterhalb der Kreide. Die Sammlung organischer Körper, die der Gelehrte angelegt hat, ist eine der größten, die es in Europa gibt. Sie hat nicht nur zum Fortschritt der Geologie beigetragen, weil sie allen französischen und ausländischen Geologen leicht zugänglich war; Herr Defrance hat aus ihr auch wertvolles Material für seine nach und nach veröffentlichten Monographien der Schalentiere geschöpft. Ich kann hier nicht auf die Einzelheiten der scharfsinnigen Beobachtungen eingehen, mit denen der Autor den geheimnisvollen Prozeß der Versteinerung zu erhellen suchte; ich beschränke mich darauf, einige allgemeine Ergebnisse mitzuteilen. Die Schale bestimmter Mollusken-Familien, zum Beispiel der Austern, verschwindet nie, während die Schale bestimmter anderer Muscheln, wie etwa der Voluten, nahezu überall verschwindet, wo es zur Versteinerung gekommen ist. Die Oolithen scheinen oft von der zerriebenen Substanz der Schale von Muscheln oder anderen Schalenkörpern gebildet worden zu sein. Füllen sie die Ammonshörner, so haben sie sich vor der Versteinerung der Muschel gebildet. Herr Defrance führt mehrere Fakten an, die es sehr wahrscheinlich machen, daß einschalige Muscheln in der oberen Kreide verschwunden sind. Die Schichten unter der Kreide weisen im allgemeinen nicht so kleine und so zahlreiche Arten auf wie die Schichten über der Kreide. Der Gelehrte nimmt an, daß die Zahl heute lebender Gattungen und Arten größer ist als zu jeder anderen Zeit. In der Tafel der organischen Körper, mit der das Werk von Herrn Defrance schließt, teilt er die Gattungen danach ein, ob sie lebend; sowohl lebend als auch fossil; oder nur in fossilem Zustand zu finden sind. Er unterscheidet die Schichten vor der Kreide, die der Kreide selbst und die Tertiärformationen oder Schichten nach der Kreide sowie die Anzahl der Arten, die in lebendem oder fossilem Zustand existieren. Diese mit äußerster Sorgfalt erarbeitete Tafel wird künftig noch mehr Präzision und Erkenntnis möglich machen: wenn man anstelle der Gattungen, deren Bestimmung zwangsläufig auf mehr oder weniger systematischen Annahmen beruht, die Arten wird aufzählen können, die in den verschiedenen Formationen eingeschlossen sind; und wenn man unter eben diesen Formationen jede einzelne derjenigen wird unterscheiden können, die zwischen der Steinkohle und dem lignithaltigen Tertiärgebilde liegen. Schon seit langer Zeit scheint mir, daß unter den Tropen wie in der gemäßigten Zone mehr einschalige als zweischalige Muschelarten vorkommen. Durch diese Überzahl offenbart die Welt der organischen Fossilien, die in den aufeinanderliegenden Schichten die Faunen der verflossenen Jahrtausende erkennen läßt, unter allen Breiten eine weitere Ähnlichkeit mit den heute in den Meeren lebenden Muscheln des Tropengebiets. In seinem Werk, das frei von Hypothesen und reich an neuen und nützlichen Beobachtungen ist, hat Herr Defrance gezeigt, daß dieses Überwiegen der Einschaligen nicht nur für die Anzahl der Gattungen, sondern auch für die der Arten gilt.