Digitale Ausgabe – Übersetzung

Denkschrift über die Festlegung der Grenzen des französischen und des portugiesischen Guyana

Sie waren so freundlich, mich zu Rate zu ziehen bei den Schwierigkeiten, die anläßlich der Festlegung der Grenzen des französischen und des portugiesischen Guyana gemäß Artikel 107 der Akte des Wiener Kongresses aufgetreten sind. Ich kann Ihnen, mein Herr, nur den Rat eines Homme de lettres anbieten, der sich lange Jahre hindurch mit der astronomischen Geographie der Länder zwischen dem Orinoco, dem Rio Negro und dem Amazonen-Strom beschäftigt hat. Da ich von den diplomatischen Angelegenheiten keinerlei Kenntnis habe, erlaube ich mir nur leichte Zweifel an allem, was die Auslegung der Verträge betrifft. Ich habe den Orinoco nur bis zu seiner Gabelung nahe der Mission von Esmeralda bereist, den Rio Negro nur bis zum Fort San Carlos, weit oberhalb des Rio de Aguas Blancas, volkstümlich Rio Branco oder Parime genannt; und am Amazonen-Strom war ich nur bis oberhalb des Pongo del Manseriche in der Provinz Jaen de Bracamoros. All diese Punkte sind sehr weit von dem Gebiet entfernt, das Gegenstand der gegenwärtigen Streitigkeiten ist; aber als ich im Auftrag Seiner Katholischen Majestät genaue Auskünfte über die Arbeiten zur Realisierung der Grenzen zwischen dem spanischen Guyana und der Capitania do Rio Negro einholte, erfuhr ich an Ort und Stelle, welche Schwierigkeiten sich bereits dem Erfolg von viel weniger komplizierten Unternehmungen entgegenstellen: das Streben nach einer Genauigkeit, die unerreichbar ist, unklar formulierte Anweisungen und vor allem nationale Feindseligkeiten. Die vier Fragen, die man mir gestellt hat, sind folgende: 1. Kann man einen Längengrad bezeichnen, ohne den Breitenparallel zu bestimmen? 2. Wenn man den Schnittpunkt zweier großer Kreise braucht, um den Längengrad eines beliebigen Ortes zu bestimmen, welchen Parallelkreis müßte man dann im exakten Sinn der angeführten Verträge zugrunde legen, damit nichts unklar und unbestimmt bleibt? 3. Wie müßte der Artikel abgefaßt sein, der eine provisorische Linie angibt, welche innerhalb eines Jahres endgültig festgelegt werden muß? 4. Welches sind die Bedingungen, über die man sich im Voraus einigen könnte, und auf deren Grundlage man die Grenzziehung der beiden Guyanen einvernehmlich und bona fide als abgeschlossen betrachten dürfte? Ad No. 1 Wenn es sich um eine von Ost nach West verlaufende lange Insel oder Halbinsel handelt, kann die Festlegung eines einfachen Meridians als Grenze dienen, wobei die Küsten oder die Umrisse der Insel oder der Halbinsel den Rest der area umschreiben. In allen anderen Fällen kann das provisorische Prinzip des 322. Grades nicht akzeptiert werden, wenn man nicht gleichzeitig einen Parallel, einen Breitengrad, festlegt, mit dem die Südgrenze des französischen Guyana vom Meridian von 322° bis zum linken Ufer des Rio Oyapock gezogen werden muß. Was Herr Chevalier de Brito in seiner Schrift vom 23. Juli 1817 über die Notwendigkeit, neben dem Meridian auch einen Parallel zu bestimmen, erklärt hat, ist vollkommen richtig. Ad No. 2 Der Art. 8 des Vertrags von Utrecht war sehr undeutlich formuliert. Die Abtretung reicht bis zum Rio Japoc oder Vincent Pinçon; es besteht aber ein Unterschied von fast zwei Grad Breite zwischen dem Rio Pinçon und dem Rio Japoc oder Oyapock, von den holländischen Seefahrern früher Wiapoco genannt. Der Rio Pinçon mündet nördlich der Insel Maraca; man fand ihn bereits nicht mehr auf der Karte von d’Anville, auch nicht auf der von La Cruz Olmedilla. Diese letztere zeigt lediglich das Cap Saint Vincent an, dort, wo man einst den Rio Vincent Pinçon vermutete. Die 1816 im Militärarchiv in Rio Janeiro gezeichnete Karte, die Sie, mein Herr, mir freundlicherweise übermittelt haben, gibt, ebenso wie d’Anville, dem Rio Pinçon den Namen Maiacare. Beruht die Löschung des Namens Pinçon nur auf der Ungewißheit darüber, wo Vicente Yanez Pinçon und sein Bruder Arias Pinçon an Land gegangen waren? Herr Brué hat auf seiner Karte von Südamerika den Rio Pinçon wieder eingesetzt. Der Irrtum der Unterhändler des Friedens von Utrecht kann auf falschen Benennungen der Vorgebirge dieser Küste beruht haben. Der Oyapock mündet nördlich des Cap Orange, wie der Rio Pinçon nördlich des Cap Nord; doch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gaben die Geographen mitunter dem Cap Orange den Namen Cap Nord. Laet sagt ausdrücklich in seiner Americae utriusque descriptio [Beschreibung beider Amerikas], 1633, Seite 636: Promontorium quod sinum ab ortu claudit in quem flumen Wiapoco (Oyapock) aliique minores amnes egrediuntur, appellatur ab Anglis cabo de Corde, a nostratibus cap d’Orange, et non raro cabo di Nord. [Das Vorgebirge, das die Bucht von ihrem Beginn an verdeckt, in welche der Wiapoco-Fluß (Oayapock) und andere kleinere Flußarme einmünden, wird von den Engländern Cap Corde genannt, von den Unsrigen Cap Orange, und nicht selten Cap Nord.] Auf diese Weise verwechselte man einst an eben dieser Küste die Mündung des Orinoco und des Orellana (Herrera Decades, Band 2, Seite 14). Von dem Frieden von Utrecht bis zu dem von Amiens und dem Wiener Kongreß konnte Unsicherheit über den Verlauf der Demarkationslinie bestehen; aber der Artikel 107 der Kongreßakte läßt keinen Zweifel; er bezeichnet klar den Rio Oyapock als Grenze. Es ist nicht mehr die Rede vom Rio Vincent Pinçon; und wenn man den Vertrag von Utrecht zitiert, so, um Seiner Majestät dem König von Frankreich den Besitz der Gebiete des Cap Orange und des Cap Nord zu sichern. Wenn der Rio Oyapock als Grenze dienen soll, bis wohin muß man ihm dann flußaufwärts folgen, um den Parallelkreis zu ziehen, der auf den Meridian von 322° östlich der Insel Ferro treffen wird? Dieser Punkt gehört nicht in die Zuständigkeit des Geographen. Sie, mein Herr, schlagen den Zusammenfluß des Camope mit dem Oyapock vor, und später den Parallel von 3°. Hätte ich die Rechte Frankreichs zu verteidigen, dann würde ich dem entgegenhalten, daß der Vertrag von Utrecht und der Artikel 107 des Wiener Kongresses nicht die Mündung des Oyapock, sondern schlicht diesen Fluß selbst (den Flußlauf) als Grenze festlegen. „… das französische Guienne bis zum Fluß Oyapock, dessen Mündung zwischen dem 4ten und 5ten Grad nördlicher Breite liegt, zurück zu geben: eine Gränze, die Portugal immer als diejenige, welche durch den Utrechter Tractat festgesetzt worden, angesehen hat.“ Diese Worte, eine Grenze, die …. sind hinzugefügt worden, damit nicht mehr die Rede vom Rio Vincent Pinçon ist; aber der gesamte Satz bezieht sich, wenn ich mich nicht täusche, auf den Rio Oyapock, auf seinen Lauf und nicht auf seine Mündung. Man schlägt den Parallel von 5° vor. Die Wasserscheide scheint zwölf Meilen weiter südlich zu liegen, nicht nach der Karte von Herrn Buache (Französisch-Guyana Jahr 6), aber nach der von Herrn le Blond, der jenseits des Zusammenflusses des Suacari mit dem Oyapock gewesen ist. Die Quellen dieses Flusses vermutet man bei 2° 24′. Es handelt sich um ein 30 bis 40 Meilen von der Küste entferntes Gebiet, wo es keinerlei französische und portugiesische Niederlassung gibt. Ich zweifle nicht daran, daß Unterhändler, denen am öffentlichen Wohl liegt, sich über diesen Unterschied von zwölf Meilen an Breite leicht verständigen werden. Ich habe jene unbewohnten Länder, deren Besitz sich die Herrscher Europas auf der Landkarte streitig machen, aus der Nähe gesehen. Wenn nicht die Zivilisation noch raschere Fortschritte macht als in den Vereinigten Staaten, werden die Gebiete zwischen dem Oyapock, dem Maroni und dem Río de Aguas Blancas nicht so bald kultiviert werden. Die Kultur dringt nur langsam von den Küsten ins Landesinnere vor, und das französische Guyana, selbst wenn der Meridian von 322° und der Parallel des Rio Vincent Pinçon es begrenzten, wäre dennoch von dem ausgeschlossen, was man großspurig den Handelsverkehr des Rio Negro nennt. Dieser Handelsverkehr kann nur über den Rio Branco (oder de Aguas Blancas) verlaufen, dessen wilde Ufer hundertzwölf Meilen von der neuen Grenze entfernt blieben. Was hätte Portugal im übrigen von ein paar mit Kakao beladenen Pirogen zu befürchten, die versuchten, über den Rio Branco zum Rio Negro hinabzufahren? Spanien besitzt einen guten Teil des Rio Negro; und welchen Handel können die Spanier von Maroa, von Davipe und von San Carlos aus betreiben, indem sie durch die portugiesischen Besitzungen hindurch den Fluß hinabfahren? Das Landesinnere des französischen Guyana ist zweifellos ein Gebiet, das der wirtschaftlichen Nutzung durchaus würdig ist, doch für die Produkte dieser Gegend wird es in jedem Fall keinen anderen Absatzweg geben als über die Küste zwischen dem Oyapock und dem Maroni. Alles, was Frankreich jenseits der Wasserscheide besitzen wird, also jenseits des Abhangs nach Süden und nach Westen, wird völlig ohne Bedeutung für den Handel sein, weil Frankreich nicht zugleich die Ufer des Rio Branco und die Mündung des Amazonen-Stroms besitzt. Ad No. 3 Rein astronomische Grenzen bieten nur in flachen, gleichförmigen, freiliegenden Ländern einen Vorteil, in denen es keine natürlichen Demarkationspunkte gibt. In Guyana würden nach meiner Ansicht Flußläufe, Bergketten, Wasserscheiden äußerst günstige Grenzen darstellen. Im Becken von Louisiana hat man kürzlich mehrmals Parallelkreise als Grenzen verwendet, weil die Breitenbestimmungen leicht durchzuführen sind und weil diese Parallelkreise schließlich auf Flüsse treffen, die von Norden nach Süden verlaufen. Die Festlegung der Grenzen mit Meridianen setzt bei den Kommissaren mehr Geschicklichkeit voraus, und vor allem mehr Gutwilligkeit, um die aufkommenden Streitigkeiten nicht endlos werden zu lassen. Soll der Meridian von 322° östlich von Ferro als Grenze dienen, dann wäre es klug, hinzuzufügen, wobei Parà oder Cayenne auf dieser oder jener Länge angenommen wird. Nach Ihrer Karte liegt Cayenne auf 325° 34′ und Parà bei 329° 22′, das entspricht 54° 26′ und 50° 38′ westlich von Paris. Die Tabellen des Bureau des longitudes dagegen geben für Cayenne und Parà 54° 35′ und 51° 0′ an. Die Differenz ist für Cayenne kaum von Belang; bei Parà jedoch beträgt sie einen halben Grad; also bis jenseits des Cap Nord. Diese Unstimmigkeiten lassen sich vermeiden, wenn man im Vertrag fomuliert: „Durch einen Meridian, der 3° 34′ oder 3½° westlich von Cayenne verläuft.“ Würde man den gesamten Lauf des Oyapock als Grenze anerkennen, könnte man, wenn man befürchtet, daß die Quellen des Oyapock viel weiter südlich liegen als vermutet, den Artikel folgendermaßen abfassen: „Die Grenze verläuft entlang dem Oyapock, von seiner Mündung bis zu seiner Quelle, wenn diese Quelle weder südlicher noch nördlicher als 2° 24′ liegt; von dieser Quelle aus folgt sie einem Parallel bis zu dem Punkt, wo dieser Parallel vom Meridian von 322° östlich der Île de Fer durchschnitten wird (wobei man Cayenne bei 325° 25′ annimmt).“ Die Formulierung wird die gleiche sein, wenn Herr Chevalier de Brito am Parallel von 3° Breite festhält. Ad No. 4 Mag der Längenpunkt über Monddistanzen, Beobachtung der Jupitermonde oder Zeitübertragung bestimmt werden, es wird stets notwendig sein, den Kommissaren die Grenzen der Fehler vorzuschreiben, die ihnen erlaubt sind. Die Chronometer werden wegen der Veränderung ihres Tagesgangs während einer Reise über Land reichen Stoff für Streitigkeiten geben. Die Monddistanzen bieten ein absolutes und leicht zu überprüfendes Mittel, wenn die Beobachtung viele Male wiederholt wird. Die Offiziere der Königlichen Marine beider Nationen sind in dieser Art von Beobachtungen sehr geübt. Und um nicht die Beobachtungen des Monddurchgangs durch den Meridian von Paris oder Greenwich aus Europa abzuwarten, muß vereinbart werden, „die Mondtabellen als fehlerfrei anzusehen“. Man berechnet die östlichen und westlichen Distanzen des Mondes zur Sonne und zu den Sternen nach der vom Bureau des longitudes veröffentlichten Connoissance des temps, und man beendet die Berechnungen, „wenn die mittleren Resultate der Serien verschiedener Tage auf 1/6 oder 1/4 Grad genau übereinstimmen.“ Wird man von den Kommissaren verlangen, den Meridian von 322° von der Grenze des holländischen Guyana oder von 3° 15′ Breite bis zum Parallel von 3° oder von 2° 24′ zu durchreisen? Die Strecke von Norden nach Süden ist sehr kurz, aber sie wird sie in ein Land führen, das noch kein Europäer durchquert hat, vierzig Meilen westlich des Maroni, zwischen dem Maroni und dem Rio Esquibo, in der Nähe der aufständischen Neger von Surinam. Das ist der Nachteil der astronomischen Grenzen, die von allen die unnatürlichsten sind! Leicht folgt man dem Lauf eines Flusses, aber unter tausend Gefahren transportiert man Instrumente in ein wildes, unbewohntes Land. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß es in diesem westlichen Teil von Guyana nur zwei Wege gibt; einer folgt dem Lauf des Maroni, der andere führt den Rio Branco und den Sarauri hinauf und über eine Portage (und den Rio Rapunuiri) in den Rio Esquibo. Auf dieser letzten Route gelangt man über den Amazonas, den Rio Negro, den Rio Branco und den Sarauri sowie den Esquibo von Parà nach Surinam. Der Vertrag von Amiens verlängerte einen Parallel bis zum Rio Branco; wenn man darauf beharrt, den 322. Längengrad als Westgrenze des französischen Guyana zu betrachten, dann muß man sich vielleicht darauf beschränken, den Schnittpunkt dieses Meridians mit dem Parallel, der als Südgrenze dient, durch astronomische Beobachtungen festzulegen. Dies sind meine Überlegungen. Sofern man sicher ist, über das zu verhandeln, was bereits erschlossen ist, werden die Grenzen sich leicht festlegen lassen. Über Punkte, welche die Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten verlangen, kann man nicht in Europa diskutieren. Frankreich, in seinem Kolonialhandel eingeschränkt, muß den lebhaften Wunsch haben, wieder in den Besitz einer Provinz zu gelangen, welche die Natur mit ihren schönsten Erzeugnissen ausgestattet hat. Zwei benachbarten Nationen wird es nicht an Raum fehlen, um ihre Industrie auszubauen. Und wenn man einen so weiten Teil des Erdballs innehat wie der König von Portugal und Brasilien, wird man leicht ein paar Meilen von seinem Gebiet an den unbestellten Ufern des Oyapock abtreten. Aber Ihnen geht es nicht um diese Abtretung; Sie wollen lediglich die Grenzen festlegen, in Begriffen, die so klar sind, daß die Arbeit der Kommissare nicht endlos wird. Paris, den 6. August 1817.