Digitale Ausgabe – Übersetzung

Brief von Herrn von Humboldt an Herrn Pictet über die magnetische Polarität eines Serpentinberges

(Aus Nicholsons Journal of Natural Philosophy, Chemistry and the Arts, No. III, Juni 1797)1 Anfang des achtzehnten Jahrhunderts richtete sich die Aufmerksamkeit der Physiker ausschließlich auf die Phänomene des Magnetismus. Die Fortschritte, die seither in der Theorie der Elektrizität gemacht worden sind, und der Vorrang, den dann die Chemie vor den anderen Zweigen der Naturwissenschaft gewonnen hat, haben das Interesse gemindert, das man den Forschungen über das magnetische Fluidum hätte widmen müssen. Ihre berühmten Kompatrioten, Herr de Saussure und Herr Prevost, haben freilich durch Entdeckungen, wie man sie von ihrem Scharfsinn erwarten durfte, die Physiker wieder in diese Richtung gewiesen; der erste erfand ein Instrument, mit dem man die Intensität der magnetischen Kräfte in verschiedenen Regionen des Erdballs vergleichend messen kann; der zweite reduzierte die Gesetze der magnetischen Polarität auf diejenigen der einfachen Anziehung. Dennoch haben diese Entdeckungen nicht ausgereicht, um die Physiker wieder auf den Weg zu bringen, den jene Autoren erfolgreich eingeschlagen hatten, und man hat das wertvolle Werk De l’origine des forces magnétiques ebenso aus dem Blick verloren wie die Berechnungen des genialen Coulomb und die Versuche, die er mit der Drehwaage unternommen hat.2 Ich habe, mit der Boussole in der Hand, einen großen Teil der europäischen Gebirge durchquert und mich davon überzeugt, daß die von den in Schichten oder in Adern liegenden eisenhaltigen Massen verursachten Abweichungen viel seltener sind, als es die Naturforscher annehmen. Die Beobachtungen, welche die Herren de Saussure und Trembley auf dem Gipfel des Cramont gemacht haben,3 erscheinen mir um so interessanter, als sie die einzigen ihrer Art sind und unsere Vorstellungen von den Dimensionen der magnetischen Sphären erheblich erweitern. In den schwedischen und den norwegischen Alpen, in jenen Regionen des Nordens, welche die Natur mit riesigen Lagern von Eisen ausgestattet hat, das weniger stark oxydiert ist als in unseren Breiten, können wir ähnliche Phänomene erwarten. Ich beeile mich, Ihnen eine Entdeckung mitzuteilen, die ich im letzten November gemacht habe und die, wie mir scheint, zum Fortschritt der Geologie beitragen kann. Sie kennen die Gesetze und die Regelmäßigkeit der Richtung und des Fallens der primitiven Schichten, die ich von den Küsten des Mittelmeers bis zu denen der Ostsee beobachtet habe, und ebenso wie unser Freund Herr Dolomieu haben Sie Interesse an den genauen Untersuchungen bekundet, welche ich zu diesem Thema angestellt habe und die in anderen Händen viel Klarheit über den Bau des Erdballs schaffen könnten. Als ich die Bergkette der Oberpfalz und der Markgrafschaft Bayreuth durchquerte, traf ich tief im Fichtelgebirge zwischen Münchberg und Goldkronach auf einen einzelnen Höhenzug, der sich ungefähr 50 Toisen über die Ebene erhebt. Seine Höhe über dem Meeresspiegel kann auf 250 oder 300 Toisen geschätzt werden; er verläuft von West nach Ost und bildet einen sehr stumpfen Kegel. Die Felsen, die seinen Gipfel krönen, sind aus sehr reinem Serpentin,4 der in Farbe und blättrigem Bruch in mehreren Stücken dem Wernerschen Chloritschiefer (chlorite schisteuse) ähnelt. Dieser Serpentin teilt sich ziemlich deutlich in Schichten, die in einem Winkel von 60 bis 65 Grad nach Nordwest fallen. Er ruht auf einem geäderten Granit, der mit Hornblende gemischt ist. Diese Mischung bezeichnen wir mit dem Namen Syenit. Ich brachte meine Boussole in die Nähe des Felsens, um dessen Richtung im Verhältnis zum Meridian genauer zu erkennen; sogleich schlug die Nadel lebhaft aus. Ich trat zwei Schritte näher an den Fels heran und sah, daß der Nordpol auf die Seite des Südpols sprang. Ich rief zwei Freunde herbei, die Herren Gödeking und Killinger, die Begleiter meiner geologischen Wanderungen, und sie empfanden wie ich jene große Freude, welche ein neu entdecktes Phänomen dem Forschergeist bereitet. Ich kürze die Einzelheiten aller unserer Beobachtungen ab und beschränke mich hier allein auf die Ergebnisse, welche ich später noch weiter werde ausführen können, wenn meine Arbeiten mich nicht von diesem Teil Deutschlands entfernen. Die Wirkung dieses Serpentinberges zeigt sich auf sehr bemerkenswerte Weise: Die nackten Felsen am Nordabhang und diejenigen des Südabhangs haben direkt entgegengesetzte Pole. In den ersteren findet man nur Südpole, in den letzteren nur Nordpole. Die gesamte Masse dieses blättrigen Serpentingesteins hat also nicht eine einzige Magnetachse, sondern eine unendliche Vielzahl verschiedener Achsen, die zueinander vollkommen parallel liegen. Dieser Parallelismus stimmt auch mit der Magnetachse des Erdballs überein, wenngleich deren Pole umgekehrt sind, so daß der Nordpol des Hügels dem Südpol der Erde entspricht. West- und Osthang weisen also das auf, was man in der Theorie des Magnetismus Indifferenzpunkte nennt. Der Magnet ist dort nicht affiziert, wenngleich der Felsen das gleiche Aussehen hat wie anderswo. Ich habe nicht nur beobachtet, daß die Magnetachsen nicht in derselben horizontalen Ebene angeordnet sind, sondern auch, daß zwei Punkte mit sehr starker Wirkung durch Felsen verbunden sind, die nicht die geringste Anziehung ausüben. Die Analyse dieser Zusammensetzungen ergibt dieselben Resultate, und es wäre nicht weniger schwierig, zwischen ihnen irgendeinen Unterschied der Aggregation zu entdecken, als nach dem Augenschein magnetisiertes Eisen von nicht magnetisiertem Eisen zu unterscheiden. Hier stellt sich eine Frage, die erst in einem halben Jahrhundert beantwortet werden kann. Die auf den Beobachtungen von Picard, La Hire, Maraldi, Cassini und Le Monnier beruhenden Tafeln zeigen, daß die Nadel seit 1660 nach Westen abweicht und daß diese Deklination weiterhin zunimmt, wenngleich die durch die Temperaturen der Jahreszeiten und durch die Mittagswärme verursachten Oszillationen oft einen retrograden Gang bewirken. Man müßte die genaue Richtung der Magnetachse unseres Berges astronomisch durch die Kulmination der Gestirne bestimmen und sehen, ob sie bis 1850 unverändert bliebe oder ob sie den Abweichungen der Nadel nach Westen folgen würde? Unsere tiefe Unkenntnis über die Gründe dieser Abweichungen, wie über die meisten geologischen Phänomene, erlaubt uns nicht, ein so kompliziertes Problem zu lösen. Es lassen sich weitere, gleichermaßen interessante Beobachtungen über die Identität der Magnetkräfte machen. Ich habe eine Masse von Felsen entdeckt, die in einer Entfernung von zweiundzwanzig Fuß auf die Nadel wirken. Ein Apparat, ähnlich dem Magnetometer von Herrn de Saussure, würde anzeigen, ob die absolute Intensität dieser Anziehung jahres- und tageszeitlichen Schwankungen unterliegt; ob sie vom Nordlicht beeinflußt wird, durch eine elektrisch geladene Atmosphäre? Dieselben Felsen würden vielleicht einmal in einer Entfernung von sechzehn, ein anderes Mal von achtundzwanzig Fuß auf die Nadel wirken. Man hat beobachtet, daß eisenhaltige Metalle, die der Luft ausgesetzt sind, nach und nach von magnetischem Fluidum durchdrungen werden. Eine leichte Oxydation des Eisens scheint diesen Effekt zu begünstigen. Ich habe selbst beobachtet, daß in einer magnetischen Eisenbank nur diejenigen Teile, die mit der Luft in Berührung waren, die Nadel affizierten. Man hält dieses Phänomen für eine Folge der Luftelektrizität. Ich weiß sehr wohl, daß der Blitz eine Eisenstange magnetisch macht; daß eine elektrische Batterie oft die gleiche Wirkung hervorbringt; aber ich sehe nicht, warum die Luftelektrizität nur auf die Oberfläche einer Schicht magnetischen Eisens einwirken sollte, das doch ein guter elektrischer Leiter ist. Hätte der Sauerstoff der Atmosphäre bei diesem Vorgang keinerlei Einfluß? – Aber anstatt mich in Wahrscheinlichkeiten zu verlieren, halte ich mich lieber an die Tatsachen. Ich habe Felsen untersucht, die mit Rasen bedeckt und daher nicht mit Luft in Berührung gewesen waren, und ich fand heraus, daß ihre Magnetkraft die gleiche war. Im Harz sieht man einen Granitfelsen, Schnarcher genannt, der sich in Gestalt eines Turms oder eines abgeflachten Kegels erhebt. Dieser Granit affiziert die Nadel ebenfalls, doch er wirkt nur als Masse und in einer einzigen senkrechten Schicht. Abgeschlagene Stücke von ihm haben keinerlei magnetische Wirkung. Diese bedeutende Entdeckung verdanken wir Herrn von Trebra, berühmt durch seine Forschungen über das Innere der Gebirge. Einige Naturforscher behaupten, der Schnarcher enthalte im Inneren eine Masse magnetischen Eisens; andere vermuten, ein Blitzschlag habe das Phänomen hervorgebracht und eine einzelne Schicht des Felsens magnetisiert. Die Natur des Gesteins, über das ich Ihnen zu berichten die Ehre habe, läßt keine derartige Erklärung zu. Der Serpentin wirkt nicht nur als Gesteinsmasse an seinem natürlichen Standort, sondern all seine Bruchstücke haben bis zu den kleinsten Teilchen ebenfalls deutliche Pole. Stücke mit einem Durchmesser von fünf Zoll wirken im Abstand von einem halben Fuß auf die Nadel. Die Untersuchung der Magnetachsen könnte Gegenstand einer interessanten Erkundung sein. Sie liegen gewöhnlich parallel zur Richtung der Splitterung des Gesteins; doch ich habe einige gefunden, die sie im rechten Winkel schnitten. Winzig kleine Stücke von 1/100 Kubiklinie weisen eine im Verhältnis zu ihrer Masse sehr starke Polarität auf. Man sieht, wie sie sich plötzlich drehen, wenn man ihnen abwechselnd die Pole des schwächsten Magneten nähert. Es ist ein sehr verblüffendes Phänomen, daß ein Stein, der eine so starke Polarität besitzt, keinerlei Anziehungskraft auf nicht magnetisiertes Eisen zeigt. Ich habe nie gesehen, daß sich auch nur die allerkleinsten Eisensplitterchen an den Serpentin geheftet hätten; dieser wird, gepulvert, jedoch sofort vom Magneten angezogen. Sie werden ungeduldig fragen, ob denn bewiesen sei, daß mein Serpentin kein magnetisches Eisen enthalte, ob es nicht so innig vermengt sei, daß es sich in der Zusammensetzung jedes Teilchens des Gesteins befinde? Ich kann Ihnen versichern, daß ich hierzu die genauesten Untersuchungen angestellt habe. Herr Gödeking, den seine Kenntnisse und Fähigkeiten über jeden Verdacht erheben, er könne sich leicht irren, hat mir bei dieser Arbeit geholfen, und wir haben uns davon überzeugt, daß die Magnetkraft, wenn sie nicht den erdigen Substanzen angehört, welche den Grundstoff des Serpentinsteins bilden, nur dem Eisen in oxydiertem Zustand zugeschrieben werden kann, welches ihn tingiert. Dies sind unsere Gründe: In diesem Stein ist keinerlei Beimischung von metallischen Substanzen zu finden; man sieht darin lediglich hier und da einige Einsprengsel von Talk oder Amianth, aber weder Schwefelkies noch Schörl, noch Oktaeder von Magneteisen. Zu feinem Pulver zermahlen, ähnelt er der Kreide. Mit der Lupe sieht man darin nur erdige Teilchen von einem hellen Grün, das ins Weiße geht. Das spezifische Gewicht des Steins ist sehr gering; es liegt zwischen 1,901 und 2,040 (Wasser hat 1,000). Es gibt also fast nur Bimsstein, Bergkork oder Bergleder und ein paar Opalarten, die eine noch geringere Dichte aufweisen. Die chemischen Versuche, mit denen wir die Analyse begonnen haben, beweisen, daß er wie Jade oder wie Speckstein oxydiertes, aber nicht anziehbares Eisen enthält. Die Lösungen in salpetriger Salzsäure (Königswasser) sind gelb und nicht grün wie diejenigen, die mit Eisenglanz gemacht werden und mit den Erzen, die das Eisen rein oder im metallischen Zustand enthalten. Hier liegt also ein bemerkenswertes Phänomen vor, nämlich die Polarität von höchst-oxydiertem Eisen. Die gelehrten Forschungen meiner berühmten Kompatrioten Klaproth und Wenzel zeigen uns, daß reines Nickel und Kobalt vom Magneten angezogen werden; wir wissen, daß dies auch bei schwach oxydiertem Eisen (dem schwarzen Oxyd) der Fall ist; doch welch ein Unterschied zwischen diesem Oxydationszustand und demjenigen des Eisens, das Serpentin, verschiedene Kalksteine und vielleicht sogar manche Pflanzen tingiert! Welch ein Unterschied zwischen einer Substanz, die auf beide Spitzen der Nadel gleichermaßen wirkt, und einem Stein, dessen kleinste Stückchen eine spontane Polarität besitzen! – Beobachten wir; sammeln wir zweifelsfreie Fakten. So lassen sich die Theorien der Physik auf solide und dauerhafte Grundlagen stellen.