Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 18

Zahlenwissen

Humboldts mathematische Ausbildung und Kompetenz

Alexander von Humboldts privater Anfangsunterricht in Mathematik wurde von Ernst Gottfried Fischer erteilt, der ab 1787 als Professor der Mathematik und Physik am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster lehrte und 1803 außerordentliches, 1808 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde.1 Humboldt hatte also einen sehr tüchtigen Privatlehrer in Mathematik, der ihm bescheinigte, er wäre ein sehr guter Mathematiker geworden, wenn er sich vorwiegend oder ausschließlich der Mathematik hätte widmen können. Möglicherweise gehörte auch der geschätzte Privatlehrer Meyer Hirsch, der unter anderem Prinzen des königlichen Hauses unterrichtete, zu Humboldts Mathematiklehrern. Als Humboldt ab dem Wintersemester 1787 an verschiedenen Universitäten und Ausbildungseinrichtungen zu studieren begann, vertiefte er auch sein mathematisches Wissen, vor allem im Hinblick auf dessen Anwendungen. An der Universität Frankfurt an der Oder war es Finanz-, Wirtschafts- und Verwaltungskunde, das heißt die sogenannte Kameralistik, ohne dass darüber Genaueres bekannt ist. An der Göttinger Universität lernte er Abraham Gotthelf Kästner kennen und arbeitete die Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen Georg Friedrich Tempelhoffs durch. Aus der Göttinger Zeit, vom 11. Mai 1789, stammt der Brief an Johann Heinrich Pfaff in Helmstedt, in dem er sein Interesse für die und seine Wertschätzung der Mathematik sowie seine eigene geringe Kenntnis darin bekundete: „Da ich bestimmt bin, meinem Vaterland im Fabrikfache zu dienen, so kann ich die Mathematik nur als Hülfswissenschaft treiben. […] Doch bleibt mathematisches Studium, besonders mechanisches, die Hauptbasis davon. […] Bei meinen so geringen mathematischen Kenntnissen habe ich genug erfahren, wie wichtig jenes Studium dem Kameralisten sei. So viel Zeit ich meinen anderen Beschäftigungen entziehen kann, widme ich der Mathematik.“2 Tatsächlich hat Mathematik für Humboldts Forschungen zeit seines Lebens – mit zwei ergebnislosen Ausnahmen – lediglich die Rolle einer Hilfswissenschaft für seine naturkundlichen Studien gespielt, nicht die eines expliziten Forschungsgegenstandes.

Humboldts Versuche, eigene Formeln zu entwickeln

In dem zitierten Brief vom 11. Mai 1789 schrieb Humboldt an Pfaff, einen Freund seines Lehrers Fischer, über seine Versuche, Logarithmen von Summen aus den Logarithmen der Summanden darzustellen, also eigene Formeln zu entwickeln. Er hatte Pfaff, bei dem Carl Friedrich Gauß 1798 promovierte, im April 1789 mit einem Empfehlungsschreiben Fischers besucht. Darin bescheinigte ihm Fischer insbesondere Fähigkeiten in der angewandten Mathematik.3 Die beiden vermutlich Anfang Mai 1789 entstandenen Manuskripte, auf die sich Humboldt in seinem Brief an Pfaff stützte, wurden 1979 aus Humboldts Nachlass ediert.4 Die erste Methode, das heißt der „Versuch Größen durch Logarithmen zu addiren und subtrahiren“, beruht auf dem Ansatz, eine Summe a+b multiplikativ darzustellen: \( a + b = a\left(1 + \frac{a}{b}\right) \) Humboldt brach freilich die Überlegungen nach wenigen einführenden Erklärungen ab, ohne eine Tabulierung von \( \lg \frac{b}{a} \) und \( \lg \left(1 + \frac{b}{a}\right) \) zu erwägen. Etliche Jahre später, 1804, ist es auf diesem Wege zur Entwicklung der Additionslogarithmen durch Giuseppe Zacchini Leonelli gekommen, die Gauß 1812 verbessert hat.5 Das zweite Manuskript trägt den Titel „Versuch eines neuen logarithmenähnlichen Exponentensystems, aus arithmetischen Reihen entwikkelt“. Humboldt zerlegte jede reelle Zahl N in das Produkt N = nx mit konstantem n. Er nannte n den Grundfaktor, x den logarithmenähnlichen Exponenten, den neuen Logarithmus. Seine Idee war, alle Zahlen als Produkte des Grundfaktors mit einem logarithmenähnlichen Exponenten zu betrachten und so ein logarithmenähnliches Exponentensystem zu erhalten. Sein vorgerechnetes Beispiel verwandte den Grundfaktor 2:
Num.log. nov.
21,0
31,5
42,0
52,5
usf.
Da die arithmetischen Operationen mit solchen Produkten den Operationen mit gewöhnlichen Zahlen völlig gleich sind, tritt durch die Zerlegung der Zahlen in Faktoren keine Rechenerleichterung ein. Humboldt stellte selbst nüchtern fest, dass er sich in den großen Erwartungen wohl getäuscht hatte, die er sich nicht hatte machen sollen. Bemerkenswert an diesen folgenlosen Versuchen bleibt gleichwohl, dass sich der knapp zwanzigjährige Student Humboldt daran versucht, Rechenerleichterungen für das numerische Rechnen zu entwickeln, also über die überlieferten Verfahren und Formeln hinauszukommen. Ähnliche Versuche aus späterer Zeit sind nicht bekannt. Sein mathematisches Wissen stammte sonst ausschließlich aus zweiter Hand. Die brieflich 1789 geäußerte Hochachtung vor der Mathematik, die Überzeugung von ihrer Wichtigkeit wird von ihm in Briefen wie Werken immer wieder thematisiert und hervorgehoben. Dies wird in den folgenden Abschnitten genauer ausgeführt.

Student der Kameralistik und des Bergbaus

Vom August 1790 bis April 1791 studierte Humboldt in Hamburg an der Handelsakademie, um sein kameralistisches Wissen zu vervollkommnen und kaufmännische Buchführung zu lernen. Es war eine private Lehranstalt, die von Johann Georg Büsch geleitet wurde. An Wilhelm Gabriel Wagner schrieb er am 23. September 1790: „Ich lebe als Zögling auf der Handelsakademie bei Professor Büsch, sehe nichts als Zahlen und Kontorbücher vor mir, und muß meine Pflanzen und Steine vergessen“.6 Diese Aneignung numerischen Finanz- und Wirtschaftswissens sollte ihm später auf seiner Amerikareise zugute kommen, als er sich insbesondere über die Demographie und Wirtschaft Mexikos und Kubas informierte und die Ergebnisse nach seiner Rückkehr nach Europa publizierte.7 Im Juni 1791 begann Humboldt sein knapp acht Monate währendes, intensives Studium an der Bergakademie Freiberg, das er im Februar 1792 beendete. Dort seien, wie er an Archibald Maclean, einen ehemaligen Kommilitonen der Handelsakademie, schrieb,8 fast alle Stunden des Nachmittags mit Kollegien besetzt, u. a. über Markscheiden, Risse- und Maschinen-Zeichnen. Die theoretische und praktische Markscheidekunst lehrte Johann Friedrich Freiesleben, mit dessen Sohn Carl sich Humboldt dauerhaft anfreundete. Das Situations-, Perspektiv- und Maschinenzeichnen vermittelte der Zeichenmeister Johann Simeon Benjamin Sieghardt.9 Auch wenn dies Humboldt im zitierten Brief nicht erwähnt, ist denkbar, dass er auch am Unterricht von Johann Friedrich Lempe über „gemeine und allgemeine Arithmetik und ebene Geometrie“ sowie Stereometrie teilnahm, der das mathematische Werk von Johann Friedrich Lorenz zugrunde legte. Neues konnte Humboldt kaum von ihm lernen.10 Jedenfalls schrieb er am 26. November 1791 an Dietrich Ludwig Gustav Karsten, einen Schüler von Abraham Gottlob Werner: „Ich bin dabei nach Formel eine Tabelle für die Wärme Leitungskräfte der Körper zu berechnen, weil ich sie für Technologie wichtig halte“.11 Die nach „Maier’schen Formeln“ berechnete Tafel erschien 1792 unter dem Titel „Entwurf zu einer Tafel für die Wärme-leitende Kraft der Körper“.12

Erlernen der praktischen Astronomie

Nach dem Tod seiner Mutter am 19. November 1796 beginnt Humboldt 1797, sich auf eine große wissenschaftliche Reise vorzubereiten. Von mathematischen Studien ist nicht mehr die Rede. Zu den Reisevorbereitungen gehörten auf Anregung des Astronomen Franz Xaver von Zach geographische Ortsbestimmungen auf astronomischer Grundlage, astronomische Beobachtungen und das Sich-Vertraut-Machen mit den zahlreichen Instrumenten, insbesondere zur Winkel- und Zeitmessung. Sie dienten ihm dazu, numerische Messdaten zu erzeugen. Humboldt hat sich darüber dankbar in den 1810 erschienenen Untersuchungen über die Geographie des Neuen Kontinents geäußert, das heißt in der von ihm und Jabbo Oltmanns verantworteten deutschen Bearbeitung ihres zweibändigen Recueil d’observations astronomiques, d’opérations trigonométriques, et de mesures barométriques: „Als ich mich im Jahre 1797 auf eine Reise außerhalb Europa vorbereitete, wurde ich von einem der ersten Astronomen unsers Zeitalters, von einem Mann, dessen Verdienste um Stern- und Landeskunde allgemein anerkannt werden, dazu aufgefordert, mich mit astronomischen Beobachtungen zu beschäftigen. Ich verdanke dieser wohlwollenden Aufforderung des Herrn von Zach viele der frohesten Stunden meines Lebens. Meine Neigung zur praktischen Astronomie hat seitdem mit jedem Jahre zugenommen.“13 Die amerikanischen Tagebücher bezeugen, wie vertraut Humboldt mit derartigen Rechnungen der praktischen Astronomie war, das heißt vor allem mit Trigonometrie und Logarithmen. Die Höhe eines Berges, in diesem Fall des Popocatépetl, bestimmte er mit Hilfe des zweimal angewandten Sinussatzes: In jedem Dreieck verhalten sich die Längen zweier Seiten wie die Sinuswerte der gegenüberliegenden Winkel.14
Abb. 1: Bestimmung von Berghöhen mit Hilfe des zweimal angewandten Sinussatzes [Bildnachweis]
Voraussetzung ist die bekannte Standlinie \( bc \), von deren Ende aus durch Visierung die Winkel \( acd \) und \( abc \) gemessen werden. Dann ist \( \angle bca = 180° - \angle acd, \angle bac = 180° - (\angle abc + \angle acb) \). Deshalb kann die Länge ab mittels des Sinussatzes bestimmt werden: \( \sin{bac} : \sin{acb} = bc : ab \) bzw. \( \sin{bda} : \sin{abc} = ab : ad \) \( ad \) ist die gesuchte Höhe. In dem zusammen mit Jean-Baptiste Biot 1804 verfassten Aufsatz „Über die Variationen des Erdmagnetismus in verschiedenen Breiten“ werden sphärische Dreiecke benutzt.15 Humboldt verwendete also ebene und sphärische Trigonometrie, das heißt die Lehre von den Winkelfunktionen eines ebenen oder sphärischen Dreiecks, zur physischen Weltbeschreibung. Für die Veröffentlichung der vier Bände zur Astronomie hat sich Humboldt jedoch für eine klare Rollenverteilung entschieden. Er lieferte die Rohdaten, Oltmanns übernahm deren Bearbeitung. Dieser zählte allein zehn Methoden auf, mit denen die geographische Länge bestimmt wurde. Neun davon beruhten auf astronomischen Ereignissen: mittels Chronometer, Sonnenfinsternissen, Mondfinsternissen, Mond-Kulminationen, Mond-Sonne-Distanzen, Mond-Stern-Distanzen, Finsternissen der Jupiter-Monde, Merkur- bzw. Venusdurchgängen, Sternbedeckungen. Humboldt betonte, dass er bemüht war, möglichst alle Längen-Methoden anzuwenden, um nicht allein auf die mittels Chronometer erhaltenen Werte angewiesen zu sein.16 In seinen amerikanischen Tagebüchern verwandte Humboldt eine vereinfachte Höhenformel, um mittels der barometrischen Methode Höhen zu bestimmen. Unter Vernachlässigung anderer Größen nahm er den Logarithmus des Quotienten des Luftdrucks zweier Stationen, wenn es darum ging, die Höhendifferenz schnell zu berechnen.17 Oltmanns dagegen benutzte im französischen Astronomie-Werk die von ihm und Louis-François Elisabeth Ramond, Baron von Carbonnières, verbesserte Barometerformel von Laplace.18 Dieses Vorgehen setzte die Kenntnis von sieben Größen voraus und erforderte erheblichen Rechenaufwand: Seien t’, T’ die Temperaturen der Luft und von Quecksilber der oberen Station, t, T die Temperaturen der Luft und von Quecksilber der unteren Station, h’, h die Höhen des Barometers an der oberen und unteren Station, y die mittlere Breite der beiden Stationen, a der Erdradius. Für die Differenz r zwischen den Höhen der beiden Stationen gilt: \( r = 18336\,\mathrm{m} \left(1 + 0,0028371 \cos{2y}\right)\left(1+\frac{2(t' + t)}{1000}\right)\left[(1 + \frac{r}{a})\log{\frac{h}{H}} + \frac{r}{a}0,868589\right] \), wobei \( H = h’ + h’\left(\frac{T-T'}{5412}\right) \) Die Formel zeigt eindringlich, welchen Rechenaufwand Oltmanns für die Ermittlung der Höhen von 453 Orten auf sich nehmen musste. Humboldt dankte ihm in der französischen Einleitung für die Geduld bei „längsten und monotonsten Rechnungen“.19 Wie er im Essai sur la géographie des plantes 1807 erwähnte, hat Gaspard de Prony auf diese Weise – er hatte die Rechnung vereinfacht – unter seiner Aufsicht mehr als 400 Höhenmaße für die Veröffentlichung im Essai berechnen lassen. Humboldt war also auch mit den modernen Formeln und Praktiken der mathematischen Geographie und Astronomie seiner Zeit vertraut, nicht dagegen mit der höheren Mathematik und deren Theorien. Dementsprechend leichtverständlich waren und sind Humboldts Zahlen, Daten und Formeln. Sie entsprechen weitgehend dem Schwierigkeitsgrad der Mathematik der heutigen gymnasialen Mittelstufe und waren typisch für Vertreter der mathematischen Geographie und praktischen Astronomie von Humboldts Zeit. Dazu gehörten eine sichere Beherrschung der ebenen und sphärischen Trigonometrie, des Umgangs mit Logarithmen sowie das Rechnen im Sexagesimalsystem, nicht aber Differential- und Integralrechnung mit deren Anwendungen.

Der Empiriker Humboldt

Seine geringen mathematischen Kenntnisse hat Humboldt wiederholt in den amerikanischen Reisetagebüchern und gegenüber seinen mathematischen Briefpartnern freimütig eingeräumt, insbesondere nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände von Laplaces Mécanique céleste in den Jahren 1798 und 1799. Humboldt erhielt diese im November 1802 während seines Aufenthaltes in Peru. An Jean-Baptiste Delambre hatte er bereits am 24. November 1800 geschrieben, Delambre wisse, dass er, Humboldt, in Mathematik nicht sehr gelehrt sei.20 Am 25. November 1802 wurde er noch deutlicher. „Endlich nach drei Jahren des Wartens ist (November 1802) die ‚Himmelsmechanik‘ des unsterblichen Laplace angekommen. Mit grenzenloser Begierde habe ich sie verschlungen. […] Ich betrachte die Mechanik als einen wertvollen Code, in dem ich nur hin und wieder einige Worte verstehe, die meine Ungeduld vermehren und die mich meine Dummheit (stupidité) beweinen lassen.“21 Im amerikanischen Reisetagebuch heißt es: „Andere Beschäftigungen haben mich seit neun Jahren“ – ein Verweis auf die Zeit nach seinen Studien an der Bergakademie Freiberg – „von der Analysis entfernt und ich kann nicht mehr diesen Rechnungen folgen. Ich habe sie (sc. die Analysis) als einen sehenswerten Code betrachtet, in dem man nur hier und da einige Worte versteht, die sie noch ungeduldiger macht, das Ganze zu verstehen.“22 Was im Jugendbrief aus dem Jahre 1789 anklang, die hohe Wertschätzung der Mechanik, bestimmte Humboldts Wissenschaftstheorie und Weltbild. Die Mechanik war auch für ihn die Leitwissenschaft, die das wissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts bestimmte. Humboldts Überzeugung von dem sich einstellenden Gleichgewicht der Naturkräfte, die deshalb trotz einzelner Naturkatastrophen nicht den Bestand der Welt gefährden, hatte hier im Anlehnen an das Vorbild Laplace seine geistesgeschichtliche Grundlage. Ähnliche Bekenntnisse seiner beschränkten mathematischen Kenntnisse wie im Brief an Delambre finden sich vor allem im Briefwechsel mit Carl Gustav Jacobi und Carl Friedrich Gauß. 1839 veröffentlichte Gauß seine Allgemeine Theorie des Erdmagnetismus. Humboldt war voller Bewunderung. Er zählte die Arbeit zu den großartigsten und umfassendsten, die er unter seinen Zeitgenossen erlebt habe, wie er Gauß am 18. Juni 1839 schrieb.23 Was er von dem tieferen algebraischen Zusammenhang nicht gleich verstanden habe, habe ihm Jacobi zur Intuition gebracht. Und in der Tat hatte er Jacobi Ende April 1839 anvertraut: „Daß ich von einer solchen Abhandlung nur den schwachen Genuß habe, einiges zu verstehen, d. h. den Gang zu errathen, wie das Ding angegriffen ist, wissen Sie zu wohl. Es ist keine Schande, daß ich nicht mehr weiß.“24 Programmatisch formulierte er gegenüber Gauß: „Ich erkannte empirisch die Zunahme der totalen Intensität vom magnetischen Äquator gegen die magnetischen Pole hin […] ich wünschte die goldene Zeit heran, wo ein newtonischer Geist uns von den Fesseln gehäufter Epicyclen befreien und alle Elemente aus einem Princip herleiten würde. Dies Wunder haben Sie vollbracht, mein theurer, hochverehrter Freund: meine Augen haben es noch gesehen. Aus Ihrer Theorie habe ich nun erst einsehen gelernt, welchen Werth die horizontalen Schwingungen haben.“25 Seine Bewunderung hallt noch im Kosmos nach. Der eigentümliche Charakter des 19. Jahrhunderts bestehe „in einem fast gleichzeitigen Fortschreiten in sämtlichen Teilen der Lehre vom tellurischen Magnetismus […] in der ersten und glänzenden Entwerfung einer Theorie des tellurischen Magnetismus von Friedrich Gauß, auf strenge mathematische Gedankenverbindung gestützt.“26 Ende Dezember 1846 schrieb Humboldt an Jacobi: „Bei meiner sehr geringen mathematischen Kenntnis, (die aber doch das Rührende, vielleicht die Ironie Vermildernde hat, daß ich in meinem 60sten Jahre, mir noch täglich 18 Monathe lang von Duhamel Privatunterricht über mathematische Physik geben ließ), bei der Unwissenheit, die ich so gern eingestehe, hat mir doch der lange Umgang mit La Grange, Laplace und Fourier einiges Ahndungsvermögen über den relativen Werth meiner Zeitgenossen eingeflößt […] Die Mechanik des Himmels, d. h., was wir jetzt von ihr verstehen, ist die Arbeit des Menschengeistes in Entwickelung mathematischer Gedanken.“27 Humboldt hat tatsächlich, wenn auch nicht im 60. Lebensjahr, ab Herbst 1825 anderthalb Jahre lang in Paris Unterricht bei Marie Constant Duhamel in mathematischer Physik genommen.28 Die Texte zeigen überdeutlich, daß Humboldt an der Mathematisierung der Naturwissenschaften nicht unmittelbar, wohl aber mittelbar teilhatte. Er sah sich als Naturforscher, der allein empirisch vorgeht und der Fakten, Objekte, Daten, Messungen, also Zahlen im Dienste der Mathematik sammelte.

Humboldts wissenschaftliches Credo: Die Rolle der Mathematik

In der Bewunderung für Gauß’ Leistung spiegelt sich Humboldts Wissenschaftstheorie und wissenschaftliches Glaubensbekenntnis. Höchste Deutlichkeit und Evidenz herrsche, wo das Gesetzliche auf mathematisch bestimmbare Erklärungsgründe zurückgeführt werden konnte. Naturforschung brauche nicht nur eine quantitative Grundlage, sie müsse auf Mathematik, oder, wie er im Anschluss an Newtons Hauptwerk, die Principia philosophiae naturalis sagte, auf mathematische Naturphilosophie reduziert werden.29 Habe doch Newton als Erster die physische, das heißt mit Kräften arbeitende Astronomie zu einer mathematischen Wissenschaft erhoben.30 Sowohl der zweite wie der dritte, der Astronomie gewidmete Kosmos-Band enden mit einem Hymnus auf die Mathematik: Die Geistesarbeit zeige sich in ihrer erhabensten Größe in der mathematischen Gedankenverbindung, in der reinen Abstraktion. Es wohne ein fesselnder Zauber in der Anschauung mathematischer Wahrheiten,31 Astronomie als Wissenschaft sei der Triumph mathematischer Gedankenverbindung,32 gegründet auf das sichere Fundament der Gravitationslehre und die Vervollkommnung der höheren Analysis. Kein Zweifel: Humboldt sah in der Himmelsmechanik eine Erfolgsgeschichte des menschlichen Geistes, in Laplace einen ihrer Heroen, dem er und Aimé Bonpland den dreibändigen Reisebricht, die Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent widmeten. Die Mathematik wird zum raumdurchdringenden Fernrohr.33 Durch ihre Ideenverknüpfungen führe sie in ferne Himmelsregionen. Als geistiges Auge sah sie den Himmelskörper Neptun, bevor noch ein Fernrohr auf ihn gerichtet war34 und bestimmte dessen Ort, Bahn und Masse. An Delambre schrieb Humboldt am 25. November 1802: „Ich zweifle nicht daran, daß Bürger Laplace, dessen schöpferischer Geist die Gezeiten des Meeres bezwungen hat, die Gesetze der Gezeiten der Luft entdecken wird, sobald ich ihm einige tausend Stundenbeobachtungen vorgelegt haben werde. Dies ist eine der elegantesten Anwendungen der Gesetze der Gravitation.“35 Laplace hatte in seiner Exposition du système du monde die Idee geäußert, dass die mathematische Theorie die Phänomene verbindet: „Einer der großen Vorteile der mathematischen Theorie und der passendste, um deren Sicherheit zu gewährleisten, besteht darin, Phänomene zusammen zu binden, die getrennt zu sein scheinen, indem sie deren wechselseitige Verhältnisse bestimmen, nicht durch vage und mutmaßliche Betrachtungen, sondern durch strenge Rechnungen.“36 Humboldt hat diesen Gedanken von Laplace übernommen. In der deutschen Fassung seines Aufsatzes über die Isothermen und die Wärmeverteilung auf der Erde heißt es: „Ich werde mich auf das Aussprechen von Tatsachen beschränken. Die Theorie, welche diese Phänomene verknüpft, findet sich vorgetragen in dem schönen analytischen Werk, mit welchem Fourier bald die allgemeine Physik bereichern wird.“37 Tatsächlich erschien Fouriers Théorie analytique de la chaleur 1822. Darin geht es um die Lösung einer Differentialgleichung für die Temperaturverteilung in einem homogenen Körper. Auf Humboldts gemessene oder berechnete Daten nahm Fourier keinen Bezug. Auch Gauß hatte seine Theorie des Erdmagnetismus, eine abstrakte Potentialtheorie, ohne Humboldts Daten entwickelt, diese dann aber – anders als Fourier – unter anderem an Hand dieser Daten überprüft. Humboldts Vorstellung, eine hinreichend große Daten-, das heißt Zahlenmenge diene dem Mathematiker zur Ausarbeitung einer Theorie, trifft also so nicht zu. Die Gegenüberstellung von Gauß und Humboldt in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) hat danach durchaus einen wahren Kern. Es geht nicht um unterschiedliche naturwissenschaftliche Paradigmen – lebenswissenschaftlich versus mathematisiert –: Humboldt hat sich nie als Naturwissenschaftler verstanden, sondern als Naturkundiger, als ‚Physiker‘ in diesem Sinn, insofern in diesem Wort das griechische Wort ‚physis‘ für Natur enthalten ist, als Empiriker, der sich auf Fakten beschränkte. Diese Fakten betrafen nicht nur Pflanzen, Tiere, Mineralien, sondern auch geophysikalische, numerische Daten zur Wärmeverteilung auf der Erde bzw. zum Erdmagnetismus. Es geht um eine Gegenüberstellung des Empirikers Humboldt und des Schöpfers mathematischer Theorien, kurz des Theoretikers Gauß.38 Da Kehlmann keine Doppelbiographie verfasst hat, sondern einen Roman, werden die Tätigkeiten der beiden Gelehrtentypen satirisch aufgespießt: Humboldts Messtätigkeit erscheint als paranoide Beschäftigung um ihrer selbst willen.39 Der wahre Kern war: Humboldt hatte ja von sich selbst, durchaus auch selbstironisch, gegenüber Johann Gotthelf Fischer von Waldheim gesagt: „J’ai la fureur des chiffres exactes“, „Ich bin von exakten Zahlen besessen“.40

Bewunderer der Mathematik, Förderer der Mathematiker

Humboldts große Hochachtung für die Mathematik und für die Mathematiker wurde wesentlich durch seinen Umgang mit den führenden französischen Mathematikern seit seinem ersten Aufenthalt in Paris 1798 gefördert. Wie er Gauß am 21. Mai 1826 von dort schrieb, ohne seinen zu dieser Zeit stattfindenden Mathematikunterricht bei Duhamel zu erwähnen, zählte er Joseph Fourier und Siméon-Denis Poisson zu seinen langjährigsten Freunden.41 Auch wenn er sich, wie Gauß wisse, kein ernstes Urteil in den höheren Regionen der Mathematik anmaßen dürfe, wisse er durch die französischen Geometer von den glänzendsten Anlagen Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlets. Tatsächlich gehörte Dirichlet zu den vielen von Humboldt geförderten deutschen Mathematikern, ja stand ihm unter diesen am nächsten.42 Im Brief an Jacobi vom Ende 1846 äußerte sich Humboldt ähnlich, erwähnte neben Fourier Lagrange und Laplace.43 An den Herausgeber der Spenerschen Zeitung, Samuel Heinrich Spiker, schrieb er nach seiner endgültigen Rückkehr aus Paris nach Berlin Anfang 1829 die berühmten programmatischen Worte: „Berlin doit avoir avec le tems […] la première école de mathématiques transcendantes. Voilà le but de mes travaux et la liaison de mes efforts“, „Berlin muß mit der Zeit […] die erste Schule für transzendente Mathematik haben. Da haben Sie das Ziel meiner Arbeiten und den Zusammenhang meiner Anstrengungen.“44 Humboldt hat sich erfolgreich für dieses Ziel eingesetzt, das 1844 mit Jacobis Übersiedlung von Königsberg nach Berlin erreicht war und bis 1892, dem Jahr, in dem Karl Weierstraß emeritiert wurde, zutraf.45 Seinem Einfluss waren Berufungen nach Berlin, finanzielle Besserstellungen oder Zuwendungen bzw. andere Förderungen von Dirichlet, Jakob Steiner, Karl Weierstraß, Niels Henrik Abel, Jacob Jacobi, Crelles Journal für die reine und angewandte Mathematik, Gotthold Eisenstein, Ernst Eduard Kummer zu verdanken.46 Humboldts mathematische Kenntnisse erlaubten ihm nicht, mit den Mathematikern über deren Forschungen zu korrespondieren. Oft ging es um die Förderung von Mathematikern, im Briefwechsel mit Gauß vor allem um Dirichlet und Eisenstein, im Briefwechsel mit Dirichlet vor allem um Eisenstein und Georg Rosenhain, im Briefwechsel mit Eisenstein um diesen selbst und dessen Werdegang. Humboldt ging zu Recht davon aus, dass ihm umgekehrt die Gelehrten wie Dirichlet, denen er geholfen hatte, Gefälligkeiten erweisen würden, etwa bei der Anfertigung von Gutachten oder der Zuwahl von Mitgliedern in die Berliner Akademie der Wissenschaften. Mit Dirichlet korrespondierte er gern auf Französisch über das wissenschaftliche Leben in Paris, Laplace und Humboldt versicherten sich – natürlich auch auf Französisch – in ihrem kurzen Briefwechsel ihrer wechselseitigen Hochschätzung. Gelegentlich bat Humboldt Dirichlet oder Franz Encke (am 27. Februar 1853) um die Definition eines mathematischen Begriffs wie desjenigen der harmonischen Reihe.47 Aber in bestimmter Hinsicht gab es zwei Ausnahmen. Mit Gauß tauschte er sich über die Methoden aus, den Erdmagnetismus zu erforschen. Von Jacobi ließ er sich Gauß’ Theorie dazu erklären. Vor allem aber erbat und erhielt er von Jacobi Hinweise und Auskünfte zur Mathematikgeschichte,48 insbesondere im Zusammenhang mit seinen Studien zur Geschichte der Zahlzeichen und der Entstehung des Stellenwertsystems aus der Zeit 1819 bis 1829 und seiner „Geschichte der physischen Weltanschauung als Geschichte der Erkenntnis des Naturganzen“ für den zweiten Band des Kosmos, der 1847 erschien. Vor allem der entwicklungsgeschichtliche Aspekt der Mathematik interessierte Humboldt also neben den zweckgebundenen Anwendungen.

Die Rolle der Zahlen: Humboldts Neopythagoreismus

An Jacobi schrieb Humboldt am 8. November 1846 nach Erscheinen des ersten Bandes seines Kosmos: „Durch mein ganzes Buch geht der Gedanke durch, daß der erste hellenische Keim zu allen künftigen Fortschritten des mathematischen, strengen Naturwissens nicht in der Physik der Stoffe und Zustände der Stoffe der ionischen Schule, sondern bei den Pythagoreern lag, die auf Zahl, Maß, und Gewicht zu reduciren suchten, daß diese Richtung durch Platos Eifer für Mathematik sich vererbte in die alexandrinische Schule und durch diese im Mittelalter wieder auflebte.“49 Ähnlich formulierte er in einer Aufzeichnung zum „Gang des mathematischen Naturwissens“.50 Tatsächlich kann Humboldts Wissenschaftstheorie als Transformation des Pythagoreismus bezeichnet werden.51 Zahlen waren für ihn von überragender Bedeutung für die Naturforschung, wie er sie betrieb, und die darüber hinausführenden Naturwissenschaften. Im dritten, 1851 erschienenen Band des Kosmos heißt es programmatisch: „Die Dinge spiegeln sich in den Zahlen, welche gleichsam eine ‚nachahmende Darstellung‘ (mímesis) von ihnen sind. Die grenzenlose Wiederholbarkeit und Erhöhung der Zahlen ist der Charakter des Ewigen, der Unendlichkeit der Natur. Das Wesen der Dinge kann als Zahlverhältnisse, ihre Veränderungen und Umbildungen können als Zahlen-Combinationen erkannt werden.“52 Mit diesen Worten hat Humboldt zugleich seine eigene Forschungspraxis charakterisiert. Mit Hilfe seiner Methode der Zahlenverhältnisse und der Mittelwerte hat er erfolgreich nach empirischen Gesetzen gesucht. Zahlen waren für ihn der Zugang zur Welterkenntnis. Damit diese Erkenntnis nicht getrübt wird, müssen die Zahlen, also die Messungen, so genau wie möglich sein. Seine Feststellung, die dorisch-italische Schule habe überall nach numerischen Elementen gesucht, war zugleich eine Feststellung über sich selbst.53 Zwei Dinge waren es also, die Humboldt auf diese Weise untersuchte: die Mischungsverhältnisse oder Verteilungsfragen durch Zahlenverhältnisse und die Art der Änderung variabler Größen zu verschiedenen Zeiten und / oder an verschiedenen Orten durch den Vergleich von Mittelwerten, durch Zahlen-Kombinationen, wie Humboldt sagte. In seinen frühen chemischen Aufsätzen aus den Jahren 1798 und 1799 beschreibt er so Mischungsverhältnisse von Salpetergas und Sauerstoff, von Phosphor, Stickstoff und Sauerstoff, die Zusammensetzung der Atmosphäre.54 In der französischen wie in der deutschen Fassung seiner Pflanzengeographie von 1807, in den De distributione geographica plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem montium prolegomena von 1815, im Aufsatz „Sur les lois que l’on observe dans la distribution des formes végétales“, der auf die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen und die „Prolegomena“ zurückverweist, geht es um die Verteilungsgesetze der Vegetationsformen über die Erdoberfläche.55 Programmatisch sagt Humboldt in den Ideen: „Der Empiriker zählt und misst, was die Erscheinungen unmittelbar darbieten. Der Philosophie ist es vorbehalten, das allen Gemeinsame aufzufassen und auf Prinzipien zurückzuführen.“56 In den „Prolegomena“ sprach er im Anschluss an die arithmétique sociale von Marie Jean Antoine Nicolas Condorcet oder François Arago von der arithmetica botanica, der botanischen Arithmetik. So zählte er dort zum Beispiel siebzehn Pflanzenfamilien auf und verzeichnete in den drei Zonen deren relative Häufigkeit.57 Bezugsgröße ist die Gesamtgröße aller Phanerogamen (Samenpflanzen) in der betreffenden Äquinoktial-, temperierten und Eiszone. Die Zahlenverhältnisse einer Zeile zeigen, dass etwa Farnkräuter (filices) zur kalten Zone hin relativ häufiger auftreten (die Zahlenverhältnisse werden größer), ebenso die Gräser (gramineae), dass die Hülsenfrüchtler (leguminosae) zur kalten Zone hin relativ seltener auftreten (die Zahlenverhältnisse werden kleiner). Die Untersuchung der Wärmeverteilung auf der Erde veranschaulicht seine Methode, durch Mittelwertbildungen empirische Gesetze zu finden. Programmatisch erklärte er 1853: „Kann man verwickelte Erscheinungen nicht auf eine allgemeine Theorie zurückführen, so ist es schon ein Gewinn, wenn man das erreicht, die Zahlen-Verhältnisse zu bestimmen, durch welche eine große Anzahl zerstreuter Beobachtungen miteinander verknüpft werden können, und der Einfluß lokaler Ursachen die Störung rein empirischen Gesetzen zu unterwerfen.“58 Wiederholt stellte er mittlere Temperaturen für verschiedene Städte zusammen, und zwar die eines Jahres, des Winters, des Sommers59 oder des kältesten und des wärmsten Monats.60 Am berühmtesten wurde Humboldts Weltkarte zur Wärmeverteilung auf der Erde, auf der er Orte gleicher mittlerer Jahrestemperatur durch Kurven, Isothermen genannt, miteinander verband, eine geometrische Veranschaulichung der Daten.61

Ziffern und Zahlen im historischen Kulturvergleich

Angesichts der überragenden Bedeutung, die Zahlen in Humboldts Wissenschaftspraxis und -theorie hatten und angesichts seiner starken wissenschaftshistorischen Interessen nimmt es nicht Wunder, dass er sich intensiv mit der Geschichte der Zahlzeichen, der Zahlendarstellung und der Entstehung des Stellenwertsystems beschäftigte. 1819 erschien ein Auszug eines darüber in Paris gehaltenen Vortrages.62 1829 veröffentlichte er einige Hauptergebnisse als Aufsatz.63 Weitergehende Pläne konnte er nicht verwirklichen. Humboldt wollte im Kulturvergleich die Zahlzeichen unter einen allgemeinen Gesichtspunkt stellen, insbesondere das sogenannte indisch-arabische Zahlensystem historisch untersuchen.64 Ihn interessierte, wie er Jacobi Anfang 1851 schrieb,65 die Methode, durch welche gruppiert und potenziert wird, und die auf ganz heterogene Zeichen angewendet werden kann. Einige Gedanken aus dem Aufsatz nahm er in den zweiten Band des Kosmos auf und schloss sich dort trotz der berechtigten Warnung August Böckhs der falschen Ansicht Michel Chasles’ an, die indischen Ziffern seien bereits um 500 in Italien, lange vor den Arabern, bekannt gewesen.66 In Wahrheit stammt die von Chasles herangezogene, Boethius zugeschriebene Geometrie von einem Kompilator des 11. Jahrhunderts.67 Der Aufsatz von 1829 ist dreigeteilt. Im ethnographischen ersten Teil widmete sich Humboldt der Wechselwirkung zwischen Sprache und Schrift, der Analogie zwischen Zahlwörtern und Zahlzeichen. Dazu verglich er die Praktiken der Ägypter, Griechen, Römer, Etrusker, Inder, Mexikaner usf. Im graphischen zweiten Teil wandte er sich den Zahlzeichen selbst zu und unterschied zwischen vier Methoden, Gruppen von Einheiten graphisch auszudrücken, eine zutreffende Klassifizierung: Juxtaposition oder additive Nebeneinanderstellung von Buchstabenzahlen oder eigentlichen Ziffern: Sie findet sich z. B. bei Griechen, Etruskern, Römern. XXX ioad Vervielfachung oder Verminderung des Wortes durch darüber oder darunter gesetzte Zeichen: Eutokios schreibt z. B. Mα, Mβ, Mγ statt 10000, 20000, 30000, Neophytos 30, 4.. für 30, 400 usf. Die hochgestellten, griechischen Buchstaben waren für Humboldt „Indicatoren“ oder „Multiplicatoren“, das M bzw. die hochgestellten Punkte Gruppenzeichen, die überflüssig wurden, wenn man wusste, um welche Gruppe es sich handelte. Vervielfachung des Wertes durch Koeffizienten: Diophantos oder Pappos schrieben z. B. βΜu für 2 mal 10000 = 20000 (Μu = Myriade = 10000). Vervielfältigung und Verminderung, aufsteigend und absteigend, durch Abteilen von Zahlschichten, deren Wert sich in geometrischer Folge vermindert: α, ι, ρ stehen für 1, 10, 100. Dementsprechend schrieb Archimedes αΜu, ιΜu, ρΜu für 10000, 100000, 1000000 usf. Im dritten Teil verwies Humboldt zu Recht auf die Knotenschnüre verschiedener Völker als Vorläufer des Rechenbrettes. Sein Schluss, in den vier Methoden liege die Erklärung von der allmählichen Entstehung des indischen Stellenwertsystems, wozu man aus der schreibenden, figurativen wie aus der betastenden, palpablen Arithmetik gelange, wird von der neueren Forschung nicht geteilt.68 Aber Humboldts auf einem Kulturvergleich beruhende Studie zeigt eindringlich, auf wie verschiedene Weisen Einheiten bei den verschiedenen Völkern gebündelt und damit interkulturell vermittelt werden können. Darin spiegelt sich auch der anthropologische Aspekt, da es Fünfer-, Zehner-, Zwanzigerbündelungen gibt, die in den sprachlichen Benennungen abgebildet werden, wie Humboldt zu Recht betonte. Es ging ihm um die „Geschichte der altertümlichen Entwicklung geistiger Kräfte und Bildung des Menschen-Geschlechts“, um Probleme, die „mit dem Gange des menschlichen Geistes, und durch die letzten Verzweigungen der Zahlen-Hieroglyphik und einfacher graphischer Methoden mit den glänzendsten Fortschritten der Mathematik in so enger Verbindung stehen“.69 Damit spielte Humboldt auf den graphischen zweiten Teil des Aufsatzes an und die Methoden, Gruppen von Einheiten graphisch auszudrücken. Die Kulturen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Für Humboldt gab es nur das „einige Menschengeschlecht“. „Ähnlichkeit der durch die fernsten Erdstriche wiederhallenden Anklänge, in grammatischen Sprachformen und graphischen Versuchen große Zahlen auszudrücken, bezeugen die Einheit des alten Geschlechts, das Übergewicht dessen, was aus der inneren Intelligenz, aus der gemeinsamen Organisation der Menschheit entspringt“.70 Einen ähnlichen Kulturvergleich, in dem Zahlen eine wesentliche Rolle spielen, hat Humboldt zum Kalenderwesen, das heißt zur Zeiteinteilung und zum Einschaltungsmodus der Azteken im Vergleich mit Tartaren, Chinesen usf. vorgenommen. Sein Vorgehen bezeugt, wie genau er das Naturgeschehen erfasst hat. Sein neunundsechzig Seiten umfassender Essay ist der Tafel XXIII, also dem Basaltrelief zum mexikanischen Kalender der 1810 bis 1813 erschienenen Vues des Cordillères, et monumens des peuples indigènes de l’Amérique beigegeben. Zwar beherrschte er nach eigener Aussage nicht das Mexikanische, also die indigenen Sprachen, hinreichend, um die Werke der Eingeborenen lesen zu können.71 Aber es stand für ihn fest, dass ein Volk, das seine Feste nach der Bewegung der Gestirne richtete und seinen Festkalender in ein öffentliches Monument gravierte, eine hohe Zivilisationsstufe gehabt haben muss. Die Azteken verwandten Perioden von fünf Tagen, zwanzigtägigen Monaten, bürgerlichen Jahren von achtzehn Monaten mit fünf Zusatztagen, Schaltzyklen von zweiundfünfzig derartigen Jahren, halbe Jahrhunderte, nach denen dreizehn Tage eingeschaltet wurden und Jahrhunderte oder „Alter“ von hundertvier Jahren.72 Gleichlange Monate mögen ihren Reiz haben. Einen kalendarischen Vorteil gegenüber dem christlichen Kalender, das heißt eine bessere Übereinstimmung zwischen astronomischem Geschehen und Kalender, bietet diese mexikanische Zeiteinteilung nicht, eine Aussage, die Humboldt auch nicht gemacht hat.

Statistik und physikalische Größen

Dass sich das Wesen der Dinge über Zahlen erschließt, leitete auch Humboldts ethno- und demographische Aufsätze und Monographien über Mexiko und Kuba, den Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne von 1811 und den Essai politique sur l’île de Cuba von 1826. In zahlreichen Aufstellungen, Tabellen, Tafeln erfasste er auf Grund umfangreicher Bibliotheks- und Archivstudien die Einwohner Mexikos bzw. Kubas nach Geschlecht, Alter, Rasse, die Heiraten, Todesfälle, Geburten, die geographischen Koordinaten von Orten, die maximalen, minimalen und durchschnittlichen Temperaturen zu bestimmten Zeiten, die Verteilung der Sprachkompetenzen, Wirtschaftsdaten wie den Umfang landwirtschaftlicher Erzeugnisse usf. Es ist dasselbe Verfahren, das Humboldt als Wirtschaftspolitiker in seiner unveröffentlichten Denkschrift von 1793 „Über den Zustand des Münzwesens in den Fränkischen Fürstentümern und seinen Einfluß auf die Handelsbalance“ angewendet hatte: Humboldt bot eine Fülle von Fakten, Belegen, Tabellen und statistischen Übersichten.73 Stets beschränkte er sich auf beschreibende Statistik. Mathematische Statistik mit ihren Analyse- und Testverfahren kommt nicht vor. Ging es um physikalische Größen, verwandte er oft mehrere, verschiedene Maßeinheiten nebeneinander: die hundertteilige Celsius-Skala und die achtzigteilige Réaumur-Skala, gelegentlich auch die Fahrenheit-Skala für Temperaturmessungen.74 Im Kosmos, also ab 1845, verwandte er im Normalfall nur noch die Celsius-Skala.75 Als Längenmaße benutzte er in der Regel die altfranzösischen Maße: den Pariser Fuß (32,48 cm), die Toise (6 Pariser Fuß), die französische Meile (3,898 km) bzw. die französische Seemeile (5,555 km). 1799 nahm er auf seine Amerikareise ein metrisches Eichmaß (étalon métrique) von Paul E. Lenoir mit. Wenn er später, zum Beispiel in den Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, Längenangaben in Meter machte, setzte er den entsprechenden Zahlenwert in Toisen hinzu. Humboldt war ja als Begleiter von Delambre an den Messungen zur Ermittlung des Metermaßes als zehnmillionster Teil der Länge des durch die Sternwarte von Paris laufenden Quadranten des Erdradius erheblich beteiligt. Im Gegensatz zur Festlegung des Nullmeridians durch Greenwich statt durch Paris war es eine wissenschaftliche, keine politische Entscheidung, 1799 das Urmeter der französischen Nationalversammlung zu präsentieren, die auch in Frankreich zunächst wenig populär war und erst seit 1875 auf Grund der „Meterkonvention“ schrittweise von den westlichen Nationen übernommen wurde.

Zusammenfassung

Zahlen spielten für Humboldts Weltbild und Wissenschaftspraxis in bewusster Anknüpfung an die Pythagoreer eine zentrale Rolle. Er war mit den grundlegenden Rechentechniken der mathematischen Geographie und praktischen Astronomie gut vertraut. Die höhere Mathematik, insbesondere die Analysis, bewunderte er. Sie blieb ihm aber fremd, trotz eines längeren Unterrichts darin im fortgeschrittenen Alter. In diesem Bereich verließ er sich auf das Urteil der ihm befreundeten oder bekannten herausragenden Mathematiker, insbesondere um als Wissenschaftsförderer auch für Mathematiker erfolgreich tätig zu sein.

Abbildung

  • Abb. 1: „Bestimmung von Berghöhen mit Hilfe des zweimal angewandten Sinussatzes“ aus Ulrike Leitner (Hrsg.), Alexander von Humboldt – Von Mexiko-Stadt nach Veracruz, Tagebuch, Berlin: Akademie 2005, S. 91.

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