Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 17

Sprache und Welt

Vorbemerkung

Wenn Linguisten gegenüber Vertretern anderer Disziplinen von Humboldt sprechen, so werden sie meist hinzufügen, dass es für sie dabei um Wilhelm und nicht um Alexander geht: Wilhelm von Humboldt, der Gründer der Berliner Universität, kann als Pionier, Vorreiter oder sogar Begründer der modernen Linguistik angesehen werden und steht in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung derjenigen Alexanders kaum nach. Die Rezeptionsgeschichte des Werkes der beiden Brüder ist bis heute geprägt von einer Funktionszuweisung, die in Alexander vorrangig den Naturwissenschaftler und in Wilhelm fast ausschließlich den Sprachwissenschaftler und Universitätspolitiker sieht. Dazu trägt Alexander selbst durch verschiedene Bemerkungen bei, in denen er seinen Bruder bewundernd als wichtigsten Sprachforscher seiner Zeit bezeichnet.1 Bei genauerer Betrachtung und im Lichte einer nun durch die Herausgabe der Schriften möglichen Gesamtschau zeigt sich jedoch, dass die Beschäftigung mit dem Thema Sprache und Sprachen bei Alexander wenn auch nicht vorrangig, so doch immer wieder präsent ist und während seines ganzen Lebens und Schreibens eine Rolle spielt. Darüber hinaus scheint es sogar möglich, allgemeine Prinzipien eines Humboldt’schen Denkens zu identifizieren, die beiden Brüdern gemein und eng mit der Sprachauffassung ihrer Zeit verbunden sind. Die folgenden Ausführungen beinhalten zum einen einige allgemeine Überlegungen zur Bedeutung von Sprache und Sprachen für Alexander und zeigen zum anderen mit Blick auf die Schriften einige Arbeitsbereiche auf, in denen für Humboldt die Beschäftigung mit Sprache und Sprachen besonders relevant war.

Forschungsstand

Aufgrund der erwähnten Funktionsaufteilung ist die explizit linguistische Bibliographie zu Alexander von Humboldt eher kurz. Ein Überblick über Humboldts Beziehung zu Sprachen und Sprachwissenschaft findet sich bei Hartmut Schmidt.2 In der Tradition der biographischen Forschung wird immer wieder Humboldts persönliche Mehrsprachigkeit erwähnt und beschrieben, nähere Ausführungen dazu finden sich bei Kurt-R. Biermann und Ingo Schwarz, bei Bettina Hey’l oder in der jüngeren Forschung bei Tobias Kraft.3 Auch zu Einzelaspekten liegen Studien vor, so u. a. zu den persischen und russischen Wortlistensammlungen bei Ingo Schwarz und Werner Sundermann.4 Im Zusammenhang mit Wilhelms Beschäftigung mit den indigenen Sprachen Amerikas wird Alexander immer wieder als Materiallieferant erwähnt, jedoch wird seinen eigenen Betrachtungen der Sprachen eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was auch mit Wilhelms Zurückhaltung gegenüber Alexanders eigenen Arbeiten zu amerindischen Sprachen, so u. a. über die Sprache Chayma, zu erklären sein mag.5 Dass Wilhelm von Humboldt, der nie Amerika bereist hat, dennoch der wohl in seiner Zeit bedeutendste Erforscher amerindischer Sprachen werden konnte, ist nicht zuletzt Alexanders Lieferungen zu verdanken. Alexander äußerte sich dazu mehrfach in publizierten Briefen: „Les grammaires et les vocabulaires des langues aztèque et miztèque des pères Molina et Antonio de los Reyes, datent du seizième siècle. J’ai donné il y a vingt ans (Relation historique, tome Ier, p. 507), une notice de trente langues américaines qui ont été réduites en grammaires à l’usage des moines missionnaires espagnols, et cette collection précieuse que renferme la bibliothèque de mon frère, a été beaucoup augmentée depuis.“6 Ganz allgemein erklärte er zur Bedeutung sprachwissenschaftlicher Dokumentation auf Forschungsreisen: „C’est un mérite sans doute que de faire voyager pour chercher, non des plantes et des scarabées seulement, mais des documents linguistiques.“7 Dieser Beitrag Alexanders wurde u. a. von Jean Rousseau und von Jürgen Trabant mehrmals betont und wird auch in der neueren, umfassenden Forschung zu Wilhelm als Amerikanist immer wieder erwähnt.8 Trabant weist aber darüber hinaus darauf hin, dass Alexanders Beitrag zur modernen Sprachwissenschaft in zweierlei Hinsicht viel größer ist als üblicherweise angenommen: Erstens hatten seine Materialien wesentlichen Einfluss auf die sprachtypologischen Diskussionen dreier der herausragendsten Vertreter dieser Disziplin, nämlich neben Wilhelm auch auf Johann Severin Vater und August Wilhelm Schlegel, für den die amerikanischen Sprachen zum großen typologischen Gegenmodell der indoeuropäischen Sprachen wurden. Zweitens hat Alexander auch selbst durch seine eigene Erforschung amerindischer Sprachen wesentliche Beiträge zur Sprachtypologie geliefert und mit dem Begriff der Agglutination, der, wie es scheint, zunächst von ihm und nicht von Wilhelm geprägt wurde, einen bis heute relevanten Terminus zur Identifikation eines Sprachtyps geschaffen.9 Was die Präsenz verschiedener Sprachen im Humboldtschen Netzwerk angeht, so ist besonders die in Zusammenhang mit der aktuellen Gesamtausgabe der Schriften entstandene Arbeit von Sarah Bärtschi hervorzuheben, die in einem ausführlichen Kapitel die Sprachen der Publikationen einer quantitativen Analyse unterzieht, wodurch ein völlig neuer Blick auf das Werk möglich wird.10 Humboldt verfasste seine Texte vor allem auf Französisch und Deutsch, teilweise auch auf Latein; zudem erschienen bereits zu seinen Lebzeiten zahlreiche Übersetzungen, die mitunter von ihm selbst bearbeitet und korrigiert wurden. Bärtschi unterzieht ihre Daten auch einer genauen diachronen Analyse und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung der Publikationssprachen keinesfalls homogen oder linear verläuft: sowohl in der eigenen Produktion als auch bei der Verselbständigung der Schriften durch Nachdrucke und Übersetzungen lassen sich gewisse Phasen und Dominanzen von Sprachen identifizieren, die immer weniger unter der Kontrolle des Autors liegen und auch als Maß der zunehmenden Internationalisierung der Humboldt-Rezeption herangezogen werden können.

Biographisches: Mehrsprachigkeit als prägendes Element

Die Ursprünge der eigenen Mehrsprachigkeit und der Bedeutung von Sprache und Sprachen für Humboldt liegen in seiner Kindheit, im Erziehungskontext des 18. Jahrhunderts und in den biographischen Sonderbedingungen im Hause Humboldt. Die mehrsprachige Erziehung, die neben den Muttersprachen Französisch und Deutsch zumindest das Lateinische und das Griechische umfasst, entspricht in Adelskreisen in Preußen einerseits dem Normalfall, im Falle der Brüder Humboldt jedoch geht die Ausbildung weit über das Übliche hinaus. Ihre Kindheit auf Schloss Tegel und in der Berliner Stadtwohnung war geprägt u. a. von den Hauslehrern Joachim Heinrich Campe (1746–1818) und Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829). Der aus Holzminden stammende Campe hatte evangelische Theologie studiert und war von 1769 bis 1773 und dann nochmals 1775 als Erzieher auf Schloss Tegel angestellt. Er war ein wichtiger Vertreter der aufklärerischen Pädagogik und wurde bekannt für seine Eindeutschungen von Fremdwörtern, die nachhaltig Teile des deutschen Wortschatzes veränderten.11 Kunth stammte aus dem brandenburgischen Baruth, war ab 1777 Hofmeister in Tegel und Organisator der Erziehung der Brüder, die trotz des Altersunterschieds eine einheitliche Ausbildung erhielten.12 Dies geschah im Sinne der Mutter Marie-Elisabeth Colomb, die nach dem frühen Tod ihres Mannes die Verantwortung für die Erziehung übernahm mit dem Ziel, die Brüder „zu jeder geistigen und sittlichen Vollkommenheit, welche für Menschen erreichbar ist“,13 zu führen. Dazu gehörte eine umfassende sprachliche und philosophische Ausbildung, die sie u. a. durch den Altphilologen Ernst Gottfried Fischer (1754–1831) und den Philosophen Johann Jakob Engel (1741–1802) erhielten. Für diese Lehrer war die Kenntnis klassischer und moderner Sprachen wie auch die Übersetzungstätigkeit eine Selbstverständlichkeit. Der Geist der deutschen Aufklärung betonte in philosophischer Hinsicht im Gegensatz zu Frankreich die Vielfältigkeit der menschlichen Sprachen als Grundlage des menschlichen Geistes. Wenngleich diese Gedanken bei Wilhelm vor allem in späteren Jahren viel deutlicher und viel expliziter präsent waren, als er begann, sich an vorderster Stelle mit Sprache und Sprachen zu beschäftigen, muss doch auch für Alexander von einer Prägung im Sinne der deutschen romantischen Sprachphilosophie ausgegangen werden. Dies allein schon deshalb, weil die Beschäftigung mit dem Wesen der Sprache und der Vielgestalt der Sprachen im Geiste der Zeit omnipräsent war. Darüber hinaus war das eigene Leben Alexanders auch über die Kindheit und Jugend hinaus ein Leben mit und in verschiedenen Sprachen, die Humboldt teils hervorragend sprach und in denen er schrieb, kommunizierte oder die er zumindest gut kannte. Neben den beiden Muttersprachen und Latein als dritter Publikationssprache verfügte Humboldt über mehr oder weniger umfangreiche Kenntnisse des Spanischen, Englischen, Italienischen, Niederländischen, Russischen, Arabischen, Dänischen, Schwedischen, des Quechua sowie einer Reihe klassischer Sprachen: Latein, Griechisch, Persisch und Sanskrit.14 Betrachten wir diesen ‚Geist der Zeit‘ näher, so können wir einerseits eine Vertikalität diachroner Tiefe, andererseits eine geographische Horizontalität identifizieren. In diachroner Hinsicht umfasst das Sprachdenken der Romantik eine Reihe von Denkern, die beginnend bei Herder Namen wie Hamann, Fichte, die Brüder Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Hegel und schließlich Wilhelm von Humboldt einschließt;15 in geographischer Hinsicht ist das Sprachdenken der deutschen Romantik geprägt von der teils nahezu antipodischen Gegenposition zum französischen Universalismus. Coseriu spricht in diesem Zusammenhang von der „Kontinuität und Originalität der Sprachphilosophie der deutschen Romantik“,16 die sich in einer Reihe von Charakteristika manifestiert, die auf zwei eng miteinander verbundenen Grundprinzipien fußen, nämlich dem Prinzip der Verschiedenheit und Eigentümlichkeit der historischen Sprachen sowie dem Prinzip der Historizität: Die Blickrichtung geht nicht vom Sprachlich-Universellen, sondern von der Verschiedenheit aus. Der Mensch erfährt die Welt gemeinsam mit anderen Menschen nicht in ‚menschlicher Sprache‘ schlechthin, sondern in einer historisch gegebenen Einzelsprache. Die Erkenntnis der Gegenstände erfolgt von dieser historischen Einzelsprache aus, die nicht Gefängnis, sondern Tor zu den Sprachen der Welt ist. Die Vielfalt der Sprachen ist die grundlegendste Manifestation der Vielfalt menschlicher Kultur. Ihre Kenntnis drückt sich aus im vergleichenden grammatischen Studium, im Erlernen von Sprachen und in der Übersetzung von Texten aus einer Sprache in eine andere. Es wurde darüber diskutiert, inwieweit das Sprachdenken Wilhelm von Humboldts – und damit wohl mindestens ebenso das Sprachdenken Alexanders – stärker von der französischen oder von der deutschen Sprachphilosophie beeinflusst wurde. Die Einflüsse Condillacs und des französischen Denkens des 18. Jahrhunderts sind ohne Zweifel, doch werden sie mit dem Gedankengut Herders und Hegels und mit der für die deutsche Romantik charakteristischen Sichtweise aus der Partikularität heraus verbunden. Für Wilhelm von Humboldt ist die Beschäftigung mit den Sprachen der Welt dennoch keinesfalls eine, die beim Partikulären stehenbleibt: Im Gegenteil geht sie vom Partikulären aus, um es zu ordnen und zu systematisieren, um Strukturen und innere Ordnungsprinzipien zu identifizieren, die letztlich auf ein universelles Prinzip des menschlichen Schaffensgeistes zurückgeführt werden. Die Richtung ist dabei entscheidend: nicht von einer universellen Energeia zu den einzelnen Manifestationen, sondern von der Beschreibung der Vielfalt menschlichen Schaffens zu einer dadurch manifest werdenden universellen Schaffenskraft. Ein Korrelat dieses Blicks auf die Mannigfaltigkeit und der profunden Kenntnis verschiedener Sprachen ist der Respekt vor sprachlicher Vielfalt und vor der Verschiedenheit sprachlicher Strukturen bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber der Unterscheidung zwischen ‚primitiveren‘ und ‚weniger primitiven‘ Sprachen. Der Sprachvergleich bringt zutage, dass eine solche Unterscheidung bezüglich der phonologischen und grammatischen Komplexität – nicht vielleicht bezüglich der Frage des lexikalischen Ausbaugrades – zumindest problematisch ist. Alexander von Humboldt nun ist nicht primär Sprachforscher geworden, und die Beschäftigung mit Sprache und Sprachen bleibt in seinem Leben eher instrumental oder marginal – oder sie wird vorübergehend zentral, dann aber vermittelt über den Bruder und dessen Werk. Dennoch ist das Thema Sprache und Sprachen nicht nur aufgrund der sprachlichen Voraussetzung allen Denkens, die auch Alexander immer wieder betont, omnipräsent: Es ist auch sichtbar in einzelnen Schriften und konkreten Bemerkungen, und es mag darüber hinaus eine nicht unwichtige Rolle spielen als Hintergrund der Begeisterung für Natur und Kultur von der jeweiligen Eigenheit der Vielfalt aus, also nicht unter Überstülpung einer vorgegebenen Kategorisierung.17

Vom Primat der Natur: Sprache und Sprachen in den Schriften

Eine systematische Durchsicht der Schriften der Berner Ausgabe auf die Frage hin, welche Rolle menschliche Sprache und die Vielfalt der Sprachen in Humboldts Werk spielt, wird zunächst zu dem Ergebnis kommen, dass andere Themen für ihn eindeutig prioritär sind und dass es sogar zuweilen verwundert, dass der Blick so sehr von den Naturerscheinungen dominiert wird und fast kein Raum mehr für andere Dinge zu sein scheint. In der Freiberger Zeit dominieren Beobachtungen zur Mineralogie, zum Magnetismus und zu Gasen, und bis zum Beginn der Amerikareise steht die Natur im Vordergrund: Die zahlreichen eingepackten Messinstrumente dienen der Vermessung der Natur, nicht der Erfassung kultureller oder sprachlicher Phänomene.18 Und selbst in Amerika löst die Begegnung mit anderen Völkern kein unmittelbares Interesse am Sprachstudium aus. Menschen werden vor allem beschrieben aufgrund ihrer äußeren Merkmale. In einem Brief an Wilhelm schreibt Alexander 1801 über die Darien-Indianer, sie seien „klein, breitschultrig, platt, und überhaupt ganz das Gegentheil der Kariben; aber ziemlich weiß, und fetter, fleischiger, und stärker an Muskeln, als ich bisher Indianer gesehen habe.“19 Es scheint Humboldt mehr zu interessieren, welchen Körperbau oder welche Ernährungsgewohnheiten die Völker haben, als wie sie sprechen. Und wenn es um Völker und deren Vielfalt geht, so stehen oft Zahlen und Statistiken und externe Beobachtungen und Messungen im Vordergrund. Dies sollte aber einerseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humboldt hierfür eine Art historische und individuelle Rechtfertigung oder zumindest Erklärung beisteuert, und andererseits nicht den Blick auf Gedanken und Texte versperren, in denen er durchaus als Sprachwissenschaftler auftritt. Zu der Priorisierung der Erforschung der Natur äußert Humboldt sich an mehreren Stellen. Bekannt ist die Tatsache, dass er entgegen seinen eigenen vorrangigen Interessen die Naturwissenschaften gegenüber den (später so genannten) Geisteswissenschaften nicht als höherrangig einstuft. Im Jahr 1844 spricht er ganz allgemein von der „Vorliebe für Belebung des Gewerbefleißes und für die Theile des Naturwissens, welche unmittelbar darauf einwirken“ als „charakteristisches Merkmal unseres Zeitalters“. Daraus ergibt sich aber keine grundlegende Überlegenheit gegenüber den Geisteswissenschaften, vielmehr „wird im friedlichen Wettkampfe kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich“.20 Humboldt sieht es als Charakteristikum seiner Zeit, dass die durch technischen Fortschritt gegebene Entwicklung auf dem Gebiet der Naturerforschung diese gegenüber den Geisteswissenschaften aktuell, aber nicht prinzipiell in den Vordergrund rückt. Eine zweite Begründung ist eher persönlichen und geographischen Umständen geschuldet: Humboldt sagt, dass die Gegenstände selbst gewissermaßen dem Betrachter eine priorisierte Perspektive nahelegen. In dem berühmten Text „Ueber die Urvölker von Amerika“ von 1806 vergleicht er Amerika mit Ägypten21 und erklärt, warum, „dem Beruf meiner früheren Jugend getreu“, in Amerika das „Hauptaugenmerk auf die wundervollen Naturerscheinungen der Tropenvölker gerichtet gewesen“22 sei. Im Niltal sei man so sehr von den menschlichen Kulturdenkmälern beeindruckt, dass die Naturlandschaft ganz in den Hintergrund rücke: „Fast erscheint die Natur dort kleinlich, gegen die aufgethürmten Riesenwerke untergegangener Kunst.“ Dagegen ist das Amerikaerlebnis genau umgekehrt: „Wie ganz anders ist der fühlende Mensch gestimmt, wenn er auf den ungeheuren Strömen von Südamerika 800 oder 1000 Meilen weit ins Innere des Kontinents eindringt, oder die wilden Berggehänge der Andes durchforscht! Hier verschwinden, gegen die mächtigere Natur, alle schwachen Werke des aufkeimenden Kunstfleißes des Menschen.“23 Es ist also neben der eigenen biographischen Prägung des Blicks aus der Freiberger Erfahrung die Natur selbst, die für sich spricht. In demselben Text kommt jedoch auch das zum Ausdruck, was man das ‚konzessive Verhältnis‘ Humboldts zu den Humanwissenschaften nennen könnte: „Wenn auch“ für ihn die Betrachtung der Natur den größten Raum einnimmt, habe er „dennoch jeden Augenblick der Muße benutzt, dem langsamen und dabei so geheimnisvollen Gange der sittlichen Bildung der Amerikanischen Stammvölker nachzuspüren.“24 Diese ‚Konzession‘ an die Betrachtung der Völker und ihrer Sprachen ist jedoch keinesfalls eine zweitklassige. Humboldt rezipiert die Kenntnis der amerikanischen Sprachen von den Missionaren bis zur Gegenwart und beklagt den lamentablen Zustand ihrer Erforschung u. a. an der Universität von Mexiko, dem einzigen Ort, wo es hierfür Dozenturen gibt (und wo er später vorschlägt, ein amerikanistisches Forschungszentrum zu etablieren, an dem er selbst gerne arbeiten würde).25 Er kennt die ganze verfügbare Bibliographie und weiß sich sowohl über die Bevölkerungsentwicklung als auch über die Sprachfamilien und deren Verwandtschaft zu äußern. Sein kritischer Blick führt ihn zu vorsichtigen Formulierungen bezüglich nicht belegter Tatsachen; so weist er Spekulationen über die Rekonstruktion der Geschichte Amerikas seit der Besiedlung des Doppelkontinents durch asiatische Völker zurück.26 Dennoch sucht auch er nach Argumenten für den Zusammenhang zwischen amerikanischen und pazifischen Sprachen, die den asiatischen Ursprung der amerindischen Völker belegen und deren Sprachfamilien mit anderen in einen Gesamtzusammenhang zu bringen vermögen. Er präsentiert u. a. eine Gesamtklassifikation der Sprachen von Grönland bis Feuerland.27 Er vermittelt Albert Gallatins Klassifikation der nordamerikanischen Sprachen und kommentiert dessen Forschungen zum Cherokee und die Hypothese der Verwandtschaft verschiedener Sprachfamilien.28 Im Fall der mittel- und südamerikanischen Sprachen präsentiert er selbst wichtige Informationen zu Sprachen und Sprachverwandtschaft. Eines von Humboldts zentralen sprachwissenschaftlichen Interessen besteht in der Erfassung der Vielfalt der Sprachen der Welt und von deren Zusammenhang. In mehreren Schriften beschäftigt er sich mit der Anzahl der Sprachen in bestimmten Regionen, der Anzahl ihrer Sprecher und dem Verbreitungsgebiet – es geht also hier um eine ‚humangeographische‘ Erfassung der sprachlichen Vielfalt, die jedoch nicht rein äußerlich bleibt, sondern sich auch mit der Frage von Sprache und Dialekt und mit den genealogischen Abhängigkeiten der Sprachen beschäftigt. Die Sprachwissenschaft ist dabei für Humboldt vor allem eine Hilfswissenschaft für die Erforschung der Völkerbewegungen. Humboldt spricht einerseits von einer Art Spiegel der kulturellen und der sprachlichen Entwicklung und vergleicht den Grad der ‚Primitivität‘ der Völker mit dem der Sprachen. In dieser Hinsicht werden ‚Ähnlichkeiten‘ festgestellt zwischen Sprachen an sehr unterschiedlichen Orten, wobei die Ähnlichkeit nicht mit genealogischer Verwandtschaft, sondern mit einer Art polygenetischer Nähe begründet wird, die von der Entwicklungsstufe der Völker ableitbar ist. Andererseits warnt Humboldt davor, vom heutigen Entwicklungsgrad auf die kulturelle Tiefe einer bestimmten Region zu schließen, weil es auch in entlegenen Regionen der Welt kulturelle Schichtungen gegeben haben kann: Wo heute Nomaden sind, können früher auch sesshafte, weiter entwickelte Kulturen gelebt haben. Als komplexes Feld stellt sich in den Schriften das Beziehungsgeflecht zwischen Sprachentwicklung, Kulturentwicklung, Weltbild und ‚Rassen‘ heraus. Hier ist das Werk nicht einheitlich, und man findet sowohl Textstellen, durch die eine hierarchische Betrachtungsweise von höheren und niedrigeren Entwicklungsstufen der Völker zu rechtfertigen ist, als auch solche, bei denen die Gleichheit betont wird. Bezüglich der ‚Rasse‘ ist Humboldt als Kind der Französischen Revolution hier eindeutig: Er ist schockiert, als er bei der Ankunft in Südamerika sieht, wie die Sklaven misshandelt werden, und betont an verschiedenen Stellen die komplette Ablehnung der Vorstellung von höheren und niedrigeren ‚Rassen‘: „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechtes behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen.“29 Was die Sprachen betrifft, so ist er zunächst nicht so deutlich, aber schon während der Amerikareise schreibt er über die Einschätzung Charles Marie de La Condamines, auf den er als Vorreiter seiner eigenen Expeditionen immer wieder Bezug nimmt, das Folgende: „I have likewise paid much attention to the study of American languages“, und fügt sogleich an, dass er Condamines Einschätzung bezüglich des Karibischen nicht teile: „[I] found what Condamine said of their poverty to be extremely false.“30 Ganz allgemein stellt er fest, dass die amerikanischen Sprachen nicht „arm“ seien. Ähnliche Auffassungen vertritt Humboldt auch an anderer Stelle und widerspricht dabei der These von der ‚Degeneriertheit‘ der Sprachen der Neuen Welt.31 In späteren Jahren wird er hierbei noch deutlicher, wobei er sich immer wieder explizit auf Wilhelm und dessen Sprachstudien bezieht: Es gibt zwar unterschiedlich aufgeklärte oder zivilisierte Völker, aber keines ist prinzipiell edler oder weniger für die Freiheit geschaffen. Und dies ist auch auf die Sprachen übertragbar. Sie mögen verschieden ausgebaut sein, aber es sind alles vollständige menschliche Sprachen: „Es gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt – zur Freiheit welche in roheren Zuständen dem Einzelnen, in dem Staatenleben bei dem Genuß politischer Institutionen der Gesammtheit als Berechtigung zukommt.“32 Immer wieder nennt Humboldt das historisch-vergleichende Sprachstudium als einen der Schlüssel zur Geschichte der Menschheit und sieht darin einen aktuellen, Neues beitragenden Wissenschaftszweig. Insgesamt kann also beim Blick auf die Schriften, wie hier nur an einigen Beispielen erläutert werden konnte, ein eher untergeordnetes Interesse für Sprache und Sprachen festgestellt werden, das aber immer wieder aufscheint. Es geht vor allem um die Klassifikation und die Frage des Bezugs der Sprachen zur Menschheitsentwicklung; wie Mythen und anthropologische Informationen sind Sprachen Zeugnisse, deren Klassifikation und Erforschung einen Beitrag zu einem komplexen Mosaik leisten. Insofern sind auch die Wortetymologien bedeutsam, weil auch sie ein Spiegel der Vergangenheit sind: An verschiedenen Stellen finden sich in Humboldts Schriften scharfsinnige Bemerkungen zur Herkunft der Wörter verschiedenster Sprachen. Im Lauf des Lebens nähert sich Alexander der Auffassung seines Bruders von der gleichen Würde der Sprachen der Welt und der nicht-hierarchisierenden Betrachtung ihrer Verschiedenheit. Im Gegensatz zu Wilhelm dringt er jedoch nicht in ähnlicher Weise wie dieser in die Tiefe des grammatischen Baues und der sprachlichen Systeme und Typen ein.

Sprache, Sprachen und Sprachwissenschaft im Gesamtwerk Humboldts

Auch im Gesamtwerk Humboldts gibt es immer wieder Passagen, die sich mit dem Thema Sprache auseinandersetzen. In seiner populärsten Schrift, den immer wieder neu aufgelegten Ansichten der Natur, die erstmals 1808 erschienen sind, widmet er die ersten Seiten des Kapitels „Das nächtliche Tierleben im Urwalde“ der Frage der Sprache als Spiegel der zu bezeichnenden Welt und führt eine Reihe von Beispielen an, die dieses Verhältnis als weitgehend unmittelbares zu belegen scheinen: „Der Menschen Rede wird durch alles belebt, was auf Naturwahrheit hindeutet: sei es in der Schilderung der von der Außenwelt empfangenen sinnlichen Eindrücke, oder des tief bewegten Gedanken und innerer Gefühle.“33 Humboldt zeigt jedoch dann anhand der Ambiguität des spanischen Wortes monte (u. a. Berg, Wald, unbearbeitetes Gelände) und dessen Fehlübersetzung ins Englische, dass dies nicht immer der Fall ist. In dem entsprechenden Passus geht es um das Verhältnis von Sprache und Welt bzw. von Sprache und Wahrheit: Humboldt braucht die Sprache, um die Naturgegenstände adäquat beschreiben zu können, um über die Natur wahrheitsgetreu berichten zu können. Er unterscheidet zwischen dem „strengen Sinn des Worts“ und erwähnt dann sogleich, dass es hier auch – fast im Sinne der französischen Idee des „abus des mots“ – sprachlichen „Missbrauch“ gebe und dass die Begriffe „nur relativen Gehalts“ seien.34 Aus heutiger (und eigentlich in gewissem Sinne schon aristotelischer) Sicht würde man erklärend hinzufügen, dass es eben nicht die Wortsemantik ist, in welcher die Wahrheit oder die Falschheit der Aussage liegt, sondern die situationsbezogene konkrete Rede, der konkrete Text, der falsch oder wahr sein kann. Humboldts Naturlehre ist auch geprägt vom Ringen um die adäquate Versprachlichung der Sinneseindrücke und der objektivierenden Naturvermessungen. Humboldts Rolle als Linguist kommt besonders deutlich in der Relation historique du voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent zum Ausdruck, deren drei Bände zwischen 1814 und 1831 erschienen sind. Wie Jürgen Trabant betont hat, ist sowohl die Amerikareise selbst als auch die Relation historique von fundamentaler Bedeutung für die Linguistik: die Reise selbst, weil Alexander in seinem Gepäck Informationen und Bibliographien über zahlreiche amerikanische Sprachen nach Europa bringt und damit auch dem Bruder Wilhelm zu einer wichtigen Grundlage für dessen vergleichendes und typologisches Sprachstudium verhilft;35 der Reisebericht selbst aber, weil Trabant zufolge in ihm Alexander selbst „eine ganz eigene Ansicht der Sprache hat“36 und darin auch einige unabhängig von Wilhelm entstandene originelle Gedanken zum Thema Sprache enthalten seien. Dies zeige sich insbesondere in seiner anthropologischen Beschreibung des Volkes der Chaymas und der Grundstrukturen sowie des Wortschatzes von deren Sprache. Alexander sieht in den amerikanischen Sprachen eine große Einheit, die sie etwa von den europäischen Sprachen unterscheidet. Trabant führt die folgenden Eigenschaften auf, mit denen Alexander die amerikanischen Sprachen charakterisiert: – Sie unterschieden sich im Wortschatz, aber nicht im grundlegenden Bau, der durch die Anfügung von Elementen charakterisiert sei (hier prägt Humboldt wie erwähnt den Begriff der ‚Agglutination‘, der bis heute zur kanonischen Terminologie der Linguistik gehört und durch den neben amerikanischen u. a. auch verschiedene europäische Sprachen wie etwa das Türkische oder das Ungarische beschrieben werden). Die Beschreibung einer Sprache stehe stellvertretend für ‚die amerikanischen Sprachen‘. – Es gebe einen Zusammenhang zwischen ‚Rasse‘, Weltbild und Sprache; die amerikanischen Sprachen repräsentierten einen anderen Typ als die europäischen Sprachen; dieser Typ sei nur aus einer distanzierten Sicht erkennbar. – Dennoch wird eine radikale Zweiteilung wie bei Schlegel zwischen primitiveren und entwickelteren Sprachen klar abgelehnt. Die Sprachen werden nicht holzschnittartig in zwei getrennte Schubladen gesteckt, sondern nach Tendenzen differenziert. – Das Verhältnis von Sprache und Kultur ist nicht rein deterministisch; eine Sprache, die den amerikanischen Sprachen typologisch ähnelt, wie etwa das Koptische, stand nicht im Widerspruch zur ägyptischen Hochkultur. – Auch wenn einige indigene Völker in Amerika von Humboldt als ‚demi-barbares‘ bezeichnet werden, ist die Untersuchung ihrer Sprachen ebenso interessant und wichtig wie für den Botaniker jedwede Pflanze, ob nützlich oder nicht, von Interesse ist.37
Abb. 1: Ethnographische Karte von Süd-Amerika […] (1845) [Bildnachweis]
Merkwürdig ist, dass Alexanders Arbeiten zu den Chamyas von seinem Bruder Wilhelm kaum beachtet zu werden scheinen.38 Es wäre jedoch reine Spekulation, hierin irgendeine ablehnende Haltung zu vermuten, auch wenn es Unterschiede in der Sprachauffassung der beiden Brüder gibt. Schon in der Frankfurter Studienzeit schreibt Wilhelm über seinen Bruder: „Wir sind uns sehr gut, aber selten einig. Darum sprechen wir auch sehr wenig zusammen. Unser Charakter ist zu verschieden.“39 Was umgekehrt Alexanders Verhältnis zum Bruder angeht, finden wir in den Schriften und im Gesamtwerk nur Bewunderung und höchste Verehrung. So bildet Wilhelms Tod für Alexander einen schweren Einschnitt. Mit Hilfe von Eduard Buschmann, der laut Vorwort auf Vermittlung des großen Linguisten Franz Bopp zu dieser Aufgabe kam, veröffentlicht Alexander im Jahr 1836 postum das so genannte Kawi-Werk, das berühmteste Werk Wilhelms. Dessen Bekanntheit beruht vor allem auf dem Inhalt seiner Einleitung, die unter dem eigenständigen Titel „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ als einer der wichtigsten Referenztexte in der Geschichte der Sprachwissenschaft gilt. Das Kawi-Werk hat eine enorme Bedeutung auf zumindest drei Ebenen: Erstens ist es nicht irgendeine Beschreibung irgendeiner Sprache, sondern es zeigt eine ganz neue, bahnbrechende Art der gesamtheitlichen Sprachbetrachtung, wie sie vor Wilhelm von Humboldt so nicht existierte und wie sie für die Entwicklung der Sprachtypologie wegweisend ist,40 eine Beschreibung, bei der es um weit mehr geht als um eine äußerliche Klassifikation nach bestimmten morphologischen Kriterien, wie sie in der Typologie vorrangig üblich war seit den Arbeiten des Ökonomen und Sprachforschers Adam Smith. Bei Wilhelm von Humboldt geht es um die Sprache als Ausdruck einer bestimmten Form, in der nicht nur einzelne Elemente systemisch zusammenhängen, sondern alles von einer formalen Einheit geprägt ist, die sich im gesamten Sprachbau widerspiegelt. Zweitens misst Wilhelm von Humboldt der Kawi-Sprache einen so großen Wert bei, weil sie für ihn für die Sprachtypologie und für die Klassifikation der Sprachen der Welt eine Schlüsselrolle einnimmt, so wie es in seinen früheren Studien das Baskische war, das ihm den Blick für die wahre Verschiedenheit der Sprachen öffnete (Trabant bezeichnet die Begegnung mit dem Baskischen als Wilhelms „Amerikareise“, da er durch sie zu seiner wesentlichen Horizonterweiterung gelangt ist).41 Hier treffen sich die linguistischen Interessen der beiden Brüder vielleicht am meisten, weil Alexander die Bedeutung der fundamentalen Rolle des vergleichenden Sprachstudiums zur Rekonstruktion von Bevölkerungsbewegungen in der Geschichte der Menschheit sehr hoch einschätzt, sich immer sich wieder auf sie bezieht und auch durch seine eigene klassifikatorische Forschung zu ihr beiträgt. Drittens ist das Kawi-Werk vor allem durch die zentralen sprachphilosophischen Vorstellungen der Einleitung eben viel mehr als nur eine Monographie über eine Sprache: Hier finden sich die für die Linguistik bis heute so bedeutenden Aussagen über das Wesen der Sprache und unter anderem eine der meistzitierten Passagen, die je über Sprache geäußert wurden: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia).“42 Die zunächst einfach klingende Vorstellung der Sprache als Energeia hat unzählige Konsequenzen, die radikal dem widersprechen, was die Wissenschaft von der Sprache immer getan hat, bis zu einem gewissen Grad auch tun muss und bis heute meist auch tut: die Sprache als statisches Werk betrachten, als Projektion, als etwas Unbewegliches, weil nur das Unbewegliche angemessen beschreibbar scheint. Dieser Gedanke des Widerspruchs zwischen der Dynamik des Objekts und der Projektion der Beschreibung ist auch bei der Betrachtung der Natur vielfach von Bedeutung und auch in Alexanders Denken präsent. Alexander beschränkt seine Rolle auf die des Herausgebers, der das Kawi-Werk voll Hochachtung der Öffentlichkeit präsentiert, ohne sich in dessen Inhalt einzumischen. Aus der Vorrede, die Humboldt dem Text seines Bruders voranstellt, geht zum einen die Bewunderung für dessen Intellekt hervor, zum anderen die Überzeugung, dass Wilhelm derjenige war, der wie kein anderer in das Wesen der Sprache eingedrungen ist: „Wenn es dem, dessen Verlust wir betrauern, vergönnt war, durch die Macht seiner Intelligenz und die nicht geringere Macht seines Willens, durch Begünstigung äußerer Verhältnisse, und durch Studien, welche der häufige Wechsel des Aufenthalts und sein öffentliches Leben nicht zu unterbrechen vermochten, tiefer in den Bau einer größeren Menge von Sprachen einzudringen, als wohl noch je von einem Geiste umfaßt worden sind, so dürfen wir uns doppelt freuen, die letzten, ich darf wohl hinzusetzen, die höchsten Resultate dieser, das ganze Sprachgebiet berührenden Forschungen in der Einleitung dieses Werkes entwickelt zu finden.“43 War es in der Relation historique noch so, dass Alexander sich auf den Austausch mit Wilhelm stützen konnte, so wird schließlich im Fall des enzyklopädischen Kosmos, der die Kulmination des Humboldt’schen Schreibens bildet, der Bezug zu Wilhelm zu einem postum bewundernden. Auch in diese Gesamtschau auf die ganze Erforschung der Welt fließen Betrachtungen zur Sprache mit ein. Im Register des Werkes finden sich eineinhalb Seiten Referenzen zum Thema „Sprache“, und an zahlreichen Stellen zeugt das Werk von der zentralen Bedeutung der Sprache, die Humboldt immer wieder betont. So geht die Sprache zunächst allem voran, weil sie die Grundlage des Denkens ist: „Gedanken und Sprache stehen aber in innigem alten Wechselverkehr mit einander. Wenn diese der Darstellung Anmuth und Klarheit verleiht, wenn durch ihre angestammte Bildsamkeit und ihren organischen Bau sie das Unternehmen begünstigt, die Totalität der Naturanschauung scharf zu begrenzen; so ergießt sie zugleich, und fast unbemerkt, ihren belebenden Hauch auf die Gedankenfülle selbst. Darum ist das Wort mehr als Zeichen und Form, und sein geheimnißvoller Einfluß offenbart sich am mächtigsten da, wo er dem freien Volkssinn und dem eigenen Boden entsprießt. Stolz auf das Vaterland, dessen intellectuelle Einheit die feste Stütze jeder Kraftäußerung ist, wenden wir froh den Blick auf diese Vorzüge der Heimath. Hochbeglückt dürfen wir den nennen, der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den Tiefen einer Sprache schöpfen kann, die seit Jahrhunderten so mächtig auf Alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in dem der ergründenden Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt.“44 Immer wieder dient im Kosmos die Sprache als analogischer Vergleich, so etwa die Etymologie als Erforschung der Herkunft der Wörter als Vergleich zur Naturentwicklung: „In diesem Sinne wären Naturbeschreibung und Naturgeschichte nicht gänzlich von einander zu trennen. Der Geognost kann die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit fassen. Beide durchdringen und verschmelzen sich in dem Naturbilde des Erdkörpers, wie, im weiten Gebiete der Sprachen, der Etymologe in dem dermaligen Zustande grammatischer Formen ihr Werden und progressives Gestalten, ja die ganze sprachbildende Vergangenheit in der Gegenwart abgespiegelt findet.“45 So ist Sprache einerseits Grundlage der Naturbeschreibung und des menschlichen Denkens überhaupt, anderseits in ihrem Werden und ihrer Dynamik selbst aus der Natur hervorgegangen und zu ihr analog; und schließlich erlaubt es der Vergleich der Sprachen, Informationen beizusteuern zur Vergangenheit und Verwandtschaft der Völker.

Humboldts linguistisches Netzwerk

Im Gesamtzusammenhang der Frage von Humboldts Rolle als Linguist und für die Linguistik sollte nicht unerwähnt bleiben, dass das Humboldtsche Netzwerksich keinesfalls auf Naturwissenschaften beschränkte, sondern den Kontakt zu den bedeutendsten Linguisten seiner Zeit einschloss, die ihn als Ihresgleichen betrachteten: neben dem Bruder befinden sich unter seinen Korrespondenzpartnern u. a. Franz Bopp, August Friedrich Pott,46 Jacob und Wilhelm Grimm oder Karl Lachmann, um nur einige zu nennen. In der umfassenden Korrespondenz zeigt sich immer wieder, dass Humboldt sich fachlich mit der Linguistik seiner Zeit auf Augenhöhe befand und dass er sich dessen auch bewusst war. Die Linguistik ist zu Humboldts Zeit noch ein junges Fach, aber er zählt sie selbstverständlich zum Wissenschaftskanon, was sicherlich auch seiner Nähe zu den führenden Vertretern zu verdanken ist. Dabei sieht er die Linguistik in ihrer ganzen Breite, nicht nur die Tradition der Altphilologie und der normativen Grammatik und auch nicht das bevorzugte Studium europäischer Kultursprachen, sondern insbesondere die Entdeckung der Vielfalt der Sprachen der Welt und ihre genealogischen Zusammenhänge, weshalb er der Erforschung der noch unbekannten oder wenig beschriebenen afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Sprachen einen besonderen Stellenwert beimisst. Neben der fachlichen Beziehung zu Linguisten spielt Humboldt auch eine wichtige Rolle als politischer Unterstützer der Linguistik als Disziplin und als Förderer einzelner Linguisten. So setzt er sich beispielsweise als Vorsitzender der königlichen Immediat-Kommission zur Prüfung der Unterstützungsgesuche junger Künstler (1827–1829) für eine nicht geringe Zahl von Linguisten ein, teilweise auch für solche, die aufgrund ihrer liberalen Einstellung Probleme hatten wie Moritz Haupt oder Jacob Grimm („der geistreichste aller Sprachphilosophen“), den Humboldt besonders schätzte.47

Das Humboldtsche Denken

Alexander von Humboldt kann als Indigenist und als Sprachtypologe bezeichnet werden und überließ dennoch das tiefere Eindringen in das Wesen der Sprache seinem Bruder Wilhelm, den er für dessen sprachwissenschaftlichen Scharfsinn bewunderte. Betrachtet man aber das Werk der beiden Brüder im Zusammenhang und im Vergleich, so lässt sich vielleicht eine Art ‚Humboldtsches Prinzip‘ identifizieren, das ähnlich wie die ‚innere Form‘ der Sprache aus einem tiefen Zusammenhang ableitbar ist. Dieses Prinzip besteht vor allem im uneingeschränkten Interesse für die ganze Mannigfaltigkeit der Manifestationen aus sich selbst heraus, also dem Versuch der Überwindung dessen, was wir heute als eurozentrische Sicht bezeichnen würden, und für die Suche nach der den Objekten innewohnenden Prinzipien, seien diese Objekte Sprachen wie vorrangig im Falle Wilhelms oder Naturgegenstände wie vorrangig im Falle Alexanders. Die Vielfalt wird ohne hierarchische Brille betrachtet, sie wird nicht auf eine statische Klassifikation nach Linnéscher Manier reduziert, sondern als dynamisch in ihrer Entstehung und in ihrem Werden betrachtet. Dabei ist die Erfassung des Facettenreichtums und der Dynamik der Dinge einerseits reiner Selbstzweck und als solcher keiner Rechtfertigung schuldig, andererseits dient die genaue Kenntnis der natürlichen und menschlichen Phänomene fast nebenbei auch der eigenen Nation48 und muss gegen jede politisch motivierte Zweckeinengung auch zu deren wahrem Wohl verteidigt werden. Die Größe des freien Geistes zeigt sich also in der Erkenntnis der Größe und der Vielfalt der Natur und der menschlichen Leistung, deren höchstes Erreichtes die Sprache ist, die allen anderen Geistestätigkeiten – auch denjenigen, die der Erfassung der Natur dienen – im Hegelschen Sinne ‚voreilig‘ ist.49 Dies wusste auch Alexander von Humboldt, weshalb er die menschliche Sprache und die Vielheit ihrer Gestalt nicht als irgendein Wissensgebiet ansah, sondern als Voraussetzung des Denkens und der Wissenschaft.

Abbildung

  • Abb. 1: Heinrich Berghaus, „Ethnographische Karte von Süd-Amerika […]“ (1845), in: Ders., Physikalischer Atlas […], hrsg. von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt/Main: Eichborn 2004, S. 172–173. © Foto public domain via David Rumsey. Online unter www.davidrumsey.com (22.12.2018).

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