Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 5

Begegnungen und Netzwerke

Von wenigen Forscherpersönlichkeiten ist ein so umfangreiches Textcorpus erhalten wie von Alexander von Humboldt. Die meisten heute zugänglichen Ausgaben seiner Werke und die unüberschaubare Literatur zu Humboldt stützen sich jedoch fast ausschließlich auf die selbständig erschienenen, die ‚großen‘ Texte. Auch bei den bisherigen Briefausgaben spielen vor allem die ‚großen‘ Namen eine Rolle, wurden doch in den letzten Jahren zum größten Teil die Korrespondenzen mit den bedeutendsten Zeitgenossen publiziert. An dieser Situation ändert sich gerade Grundlegendes. Zum einen gibt die vorliegende Berner Ausgabe Zugang zu allen heute nachgewiesenen Schriften. Zum anderen wurde von der Staatsbibliothek zu Berlin zusammen mit der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau Humboldts gesamter Nachlass digital erschlossen, einschließlich der berühmten Tagebücher der Amerikanischen Reise. Er steht seither der Forschung im Internet vollständig zur Verfügung.1 Ergänzend präsentiert die Staatsbibliothek auch ein Adreßbüchlein Humboldts aus seinen späteren Lebensjahren im Netz, dessen Transkription in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erstellt wurde.2 Die Edition der Amerikanischen Reisetagebücher in einem Langzeitvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geht einher mit einer zunehmend digitalen Recherchierbarkeit der bisher erschienenen Briefcorpora.3 Auf der Grundlage all dieser Texte und Notizen sowie anhand der Korrespondenz wurde und wird das wissenschaftliche Kommunikationsnetzwerk Humboldts als einer der zentralen Forscherpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts untersucht. Handschriftlich überlieferte Äußerungen gelten als authentisch, näher, so scheint es, kann man ihrem Verfasser nicht kommen. Neben Daten und Orten sind die Briefpartner und erwähnte Personen die Fixpunkte, anhand deren der Lebensweg, die wissenschaftliche Bildung, die gesellschaftliche Stellung und die Entwicklung von Ideen und Forschungsergebnissen des Autors transparent zu werden scheinen. Zwei wesentliche Komponenten aber fehlen diesen Quellen, die in aller Regel von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden können: Bei den Briefen die dezidierte Ausrichtung auf eine breite Leserschaft und bei den 'großen' Texten die Tagesaktualität. Gerade diese Lücke füllen die Schriften: Sie geben vieles von dem über Humboldt preis, was seine Zeit in ihm erkennen konnte und sollte. In der Berner Ausgabe der Schriften finden sich neben den bereits zu Lebzeiten veröffentlichten Briefen zahlreiche Texte ganz unterschiedlicher Art, aus sehr heterogenen Zusammenhängen sowie aus Humboldts gesamter Lebenszeit als Publizist (1789–1859): Die zu Lebzeiten, auch von Humboldt selbst publizierten, teilweise tagesaktuellen Texte, wie sie in den Schriften vorliegen, ermöglichen es nun, nicht nur die Biographie und die wissenschaftliche Entwicklung, sondern auch Humboldts Selbstvermarktung und Imagepolitik zu beleuchten. In den Schriften lassen sich heute Strategien erkennen, die Humboldts wissenschaftliche Laufbahn entscheidend und zielgerichtet beförderten. Wichtigster Parameter dieser Strategien sind dabei die Personen, die das Netzwerk bildeten, in dem Humboldt agierte. Gegen Ende seines Lebens charakterisiert sich Humboldt selbst: „Ich habe immer große Neugier auf das, was ich am wenigsten verstehe. […] Je urälter man wird, desto mehr vergeudet man seine Zeit mit solcher Neugier.“7 In der Vorrede des Kosmos fasst er das gesamte Feld seiner Interessen zusammen: „Wenn durch äußere Lebensverhältnisse und durch einen unwiderstehlichen Drang nach verschiedenartigem Wissen ich veranlasst worden bin mich mehrere Jahre und scheinbar ausschließlich mit einzelnen Disziplinen: mit beschreibender Botanik, mit Geognosie, Chemie, astronomischen Ortsbestimmungen und Erd-Magnetismus als Vorbereitung zu einer großen Reise-Expedition zu beschäftigen; so war doch immer der eigentliche Zweck des Erlernens ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen.“8 Unter dieser Prämisse, die Humboldt über sein Lebenswerk stellt, bilden seine Netzwerke und Begegnungen die wesentlichen Grundlagen seines Wissens und seiner Erkenntnisse. Wissenschaftliche oder persönliche Netzwerke lassen sich in Briefen oder in gedruckten Texten analysieren. Während der Brief zunächst als private Äußerung angesehen werden muss und Korrespondenzen vor allem in der Gegenseitigkeit des Schreibens und Antwortens ihre besondere Aussagekraft entwickeln können, steht der gedruckte Text im allgemeinen für sich. Ende des 18. Jahrhunderts war der Druck als täglich benutzbares und verbreitbares Medium eine Selbstverständlichkeit. Zeitschriften, Fachjournale wie an ein breites Publikum orientierte Blätter geben demjenigen, der seine Beziehungen zu nutzen weiß, ein aktuelles und weitreichendes Mittel an die Hand, innerhalb kürzester Zeit wichtige oder große Kreise von Lesern zu erreichen. Die in der Ausgabe von Humboldts Schriften versammelten Texte sind fast ausschließlich dieser Art der Wissensverbreitung geschuldet. Auch wenn mancher private Brief zu Humboldts Zeit und speziell in Wissenschaftlerkreisen als durchaus öffentliches Dokument galt, das von Hand zu Hand weitergereicht wurde, blieben Korrespondenzen doch der Kenntnisnahme weniger vorbehalten und konnten erst durch den Druck einer größeren Öffentlichkeit zugänglich werden. Über diese gedruckten Briefe – von Humboldt selbst veranlasst oder zeitnah zu ihrer Entstehung von seinen Adressaten zum Druck gegeben9 – und die ohne großen Abstand zu ihrer Entstehung erschienenen Artikel verschiedenster Art, nun erstmals in den Schriften versammelt, kann man sich der Frage besonders gut nähern, wie Humboldt seine Netzwerke aufbaute, welche Rolle er selbst in der Scientific Community seiner Zeit einnahm und welche Anstöße er zur internationalen Wissenschaftskommunikation gab.10

Humboldts wissenschaftliche Neugier, von Jugend an

Humboldt war zeitlebens ein Lernender. Als Adliger, der es auch ohne wissenschaftliche Ausbildung zu Ansehen hätte bringen können, unterwarf Humboldt sich dem strengen Reglement eines Studiums in Freiberg, um durch Prüfung und Titel den Status eines Akademikers mit Zugang zum Staatsdienst zu erhalten. Wilhelm von Humboldts von Kant übernommene „Vision von Bildung als Prozess der Selbstemanzipation durch autonome, rationale Individuen“11 ist sicher eine der Schlüsselideen auch für Alexander von Humboldts Vorstellung von seiner eigenen Bildung. „Die Erforschung des Unbekannten, die Entdeckung des Neuen, die immer fortgehende Annäherung an die Wahrheit, die Vermehrung des Wissens, das wird zur höchsten moralischen Pflicht, wird eine der höchsten menschlichen Daseinsformen“.12 Humboldt nutzte seine besondere Begabung, Kontakte zu knüpfen. „Alexander von Humboldt war kein einsam arbeitender Gelehrter, sondern ein Forscher, der die Zusammenarbeit suchte.“13 Spricht man von Humboldts Wissensnetzwerk, darf man davon ausgehen, dass er schon früh zu den Koryphäen der einzelnen Disziplinen Kontakte herzustellen in der Lage war: „Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, dass ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftbild sein könne.“14 Der junge wissbegierige Schüler und Student kann schon früh seinen Horizont erweitern: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, der Besuch von Salons prägen ihn. Besonders aber Gottlob Johann Christian Kunth, seinem Erzieher, und Karl Ludwig Willdenow, der ihn als Jugendlichen mit der Botanik vertraut machte, verdankt er erste wissenschaftliche Erfahrungen, er bleibt beiden zeitlebens verbunden. Kunth stirbt 1829, Humboldt nennt ihn noch 1850 in einem Nachruf auf dessen Sohn „seinen unvergeßlichen, theuren Lehrer“.15 Willdenow, schon 1812 verstorben, nennt er „unsere[n] vortrefflichen Freund“ in der 1807 gedruckten Schrift Über die Chinawälder in Südamerika.16 Der Bruder Wilhelm, bis zu seinem Tod 1835 Alexander von Humboldts wichtigste Bezugsperson, seine diplomatischen Verbindungen sowie die gemeinsame Nähe zu Goethe17 und Schiller sind Beispiele für die Kontakte, die Humboldt aufgrund seiner Herkunft genießen und nutzen kann. Das Studium in Freiberg und die Tätigkeit als Bergassessor in Franken führen zu ersten Forschungen und zum Teil lebenslang dauernden wissenschaftlichen Verbindungen, z. B. mit dem Kommilitonen Johann Karl Freiesleben. Georg Forster, dessen Reisebericht schon der junge Humboldt liest und mit dem sich eine enge Freundschaft entwickelt, öffnet geographische Räume und vermittelt das Gedankengut der Französischen Revolution. Die Spanische Krone ermöglicht Humboldt alle in Mittel- und Südamerika benötigten Kontakte. Nach der Rückkehr nach Europa kann Humboldt dank seiner Reputation als weltweit gefeierter Forschungsreisender mit jedem in Beziehung treten, an dessen Wissen er interessiert ist. Gleichzeitig gibt er sein Wissen und seine Kontakte in großzügigster Weise weiter. Zu den wichtigen Personen dieser glanzvollen Jahre zählen neben Wissenschaftlern, Politikern, Literaten und Künstlern aus aller Welt auch viele jüngere Forscher, so etwa Leopold von Buch, um deren berufliches Weiterkommen sich Humboldt mit Rat und Empfehlungen kümmert.

Die Öffentlichkeit einer Forscherkarriere

Humboldt nutzte souverän die ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mittel. In den Schriften manifestiert sich öffentlich sichtbar, wie er sich im Laufe seines Lebens innerhalb der vorhandenen wissenschaftlichen und politischen Netzwerke bewegt, wie er diese für sich und andere nutzt und wie er sie erweitert. Es bietet sich an, Humboldts Schriften den bekannten drei Phasen seines Lebens und Wirkens zuzuordnen:
  1. Die Zeit vor der Amerikareise (1769–1799)
  2. Die Zeit von der Amerika- bis zur Asienreise (1799–1829)
  3. Die Zeit nach der Asienreise bis zu seinem Tod (1829–1859)

Die Zeit vor der Amerikareise (1769–1799)

Humboldt behandelte als Wissenschaftler vornehmlich naturwissenschaftliche Themen, obwohl er auch in anderen Forschungsbereichen zu Hause war. Aus der Zeit vor der Amerikareise sind von Humboldt fast ausschließlich kleine Zeitschriftenbeiträge, Rezensionen, Entgegnungen sowie Auszüge aus seinen Briefen und Hinweise auf Vorträge und in Co-Autorschaft verfasste Artikel bekannt. „Das Vertrauen der Menschen habe ich“, berichtet Humboldt 1793 in einem Brief aus Bayreuth18 und spricht damit aus, was wohl seit seiner Jugend eine immer wieder beschriebene und von ihm gut genutzte Fähigkeit war: Er verfügte über eine „natürliche intellektuelle Autorität“,19 die es ihm leichtmachte, Menschen für sich zu gewinnen. Humboldt trat 20-jährig mit wissenschaftlichen Publikationen an die Öffentlichkeit, anfangs in der Sprache der Wissenschaften seiner Zeit, Französisch, dann zunächst fast ausschließlich auf Deutsch. Erst seit 1798, als er nach Paris übersiedelte, verwandte er mehrheitlich das Französische. Als junger Mann veröffentlicht Humboldt 1789 anonym als „un jeune Gentilhomme de cette ville“ in der Gazette littéraire de Berlin die Besprechung eines lateinisch verfassten botanischen Werks des schwedischen Naturforschers und Professors der Universität Uppsala, Carl Peter Thunberg, über den giftigen Baum Bohon Upas.20 Thunbergs Leben und Werk waren Humboldt durch seinen Lehrer Willdenow bekannt.21 Danach publiziert er zunächst vornehmlich auf Deutsch, einmal in lateinischer Sprache,22 u. a. unter dem Namen von „Herrn von Humboldt, dem Jüngeren“,23 und gewinnt durch das Schreiben von Rezensionen und kleinen Artikeln zu mineralogischen und botanischen Beobachtungen so viel Reputation, dass er 1791 eine „Gegenerklärung“ zu einem Professor Witte aus Rostock zum Thema „Basalt“ veröffentlichen lässt.24 Es fällt auf, dass er sich in diesen Texten, in denen er sein Fachwissen ausbreiten und auch polemisch verteidigen kann („Ich begnüge mich [da es mir um Wahrheit und nicht um Meynungen zu thun ist] den Hrn. Witte bloß an die Thatsachen zu erinnern […]“), gerne hinter berühmte Fachleute stellt. So nennt er z. B. den Altertumsforscher Niebuhr als Referenz in der „Gegenerklärung“ oder Willdenow und andere in der Rezension des Textes von Thunberg. Er beharrt selbst nicht auf der eigenen Meinung und publiziert Berichtigungen eigener Behauptungen „[d]a mir die Wahrheit, nicht aber meine Meynungen wichtig sind“.25 Der junge Forscher beginnt sich einen Namen zu machen. Aus seinen wissenschaftlichen Briefen werden Auszüge gedruckt und erreichen die Fachwissenschaftler der Zeit.26 1792 – Humboldt ist nun Bergassessor in Preußischem Staatsdienst – tritt er zu Jean-Claude Delamétherie, Mitglied der Leopoldina, in Kontakt, der Brief wird wegen seines wissenschaftlichen Inhalts gedruckt.27 In einem anderen publizierten Brief verweist er auf eine wichtige mineralogische Entdeckung, die „mein scharfsinniger Freund Herr Freiesleben“28 machte. 1793 zeigt er als „kön. preuss. Oberbergmeister“ das Erscheinen seines ersten Buchs, Florae Fribergensis specimen, an.29 Ebenso erklärt er, dass Carl Freiesleben alleiniger Verfasser eines Werkes „über das Mittelgebirge“ sei, als dessen Mitverfasser er, Humboldt, zitiert wurde.30 1797 wird bereits eine Abhandlung Humboldts über den Magnetismus des Serpentins ins Englische und ins Französische übersetzt.31. Kaum hat sich Humboldt, nach dem Tod der Mutter und reicher Erbschaft, in Paris niedergelassen – er lebt dort seit dem 12. Mai –, wird der erste Brief aus Paris gedruckt: „Fourcroy, Vauquelin und Guyton sind jetzt mit mir von der Richtigkeit dieser Resultate überzeugt“, schreibt Humboldt am 3. Juni 1798 über eigene Forschungen zu der „Natur des Salpetergases“, zu der er im National-Institut „zwei Memoires“ vorgetragen habe.32 Damit beginnt die Zeit der gemeinsam mit den Größen seiner Forschungsinteressen in französischer Sprache verfassten Artikel: In Co-Autorschaft mit dem französischen Chemiker Louis-Nicolas Vauquelin entsteht 1798 eine „Notice sur la cause et les effets de la dissolubilité du gaz nitreux dans la solution du sulfate de fer“.33 Zusammen mit dem Naturforscher Jean-Claude Delamétherie, dem Astronomen Alexis Bouvard, dem Mineralogen Louis-Benjamin Fleuriau de Bellevue und dem Meteorologen Louis Cotte erforscht er im Observatoire National in Paris die magnetische Inklination und veröffentlicht das Ergebnis gemeinsam, Humboldts Name wird in der Reihe der Autoren nach Delamétherie an zweiter Stelle genannt.34 Öffentlich weiß Humboldt natürlich den Stil zu wahren: In einem gedruckten Brief redet er den Empfänger, Comte Antoine François de Fourcroy, in der Diktion der Französischen Revolution als „citoyen“ an. Will er damit den Wissenschaftler unabhängig von dessen gesellschaftlicher Stellung ansprechen?35 Kurz vor dem beabsichtigten Aufbruch zu der 1798 noch geplanten Reise in Richtung Indien lässt er einen Artikel veröffentlichen als Antwort an all diejenigen Physiker, die ihn zu seinen chemisch-physiologischen Versuchen um Auskunft gebeten haben.36 Bis zu seiner Abreise nach Amerika hat der junge Humboldt seinen Platz innerhalb der Forschung in Deutschland und Frankreich gefunden, und zwar in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen: Berg- und Hüttenwesen, Chemie, Botanik, Naturlehre, Physik, Mineralogie, Medizin, Astronomie, Geographie. Er publiziert in den einschlägigen wissenschaftlichen Organen beider Länder37 und kann inzwischen auf ein persönliches Netz wissenschaftlicher Kooperationspartner zurückgreifen. Dass er zudem 1795 in Schillers Horen die Erzählung „Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius“ veröffentlicht, die sein Bildungsideal, die Verbindung naturwissenschaftlicher mit philosophischer Erkenntnis feiert, mag zugleich Beweis seiner persönlichen, damals noch ungetrübten Verbindung zu Schiller wie auch ein Hinweis auf die zeitlebens offene, Disziplinen und Ideen miteinander verbindende Denkweise Humboldts sein.

Die Zeit von der Amerikareise bis zur Asienreise (1799–1829)

Kurz vor dem Aufbruch nach Amerika schickt Humboldt seine Reisepläne zur Publikation an den Herausgeber der Jahrbücher der Berg- und Hüttenkunde, Carl Ehrenbert Freiherr von Moll, den Humboldt aus seiner Zeit in Salzburg kannte.38 In einer Parenthese erwähnt er auch Bonpland. Der gedruckte Brief bleibt während der Amerikareise das wichtigste und deshalb ausgiebig verwendete Mittel der Kommunikation mit Forscherkreisen in aller Welt und somit der Etablierung wissenschaftlicher Netzwerke. Unter dem Titel „Gelehrte Reisen“ lässt der Bayreuther Münzmeister Christian Friedrich Goedeking 1799 Humboldts an ihn gerichtete Briefe, die ihn von der Amerikanischen Reise erreichten, drucken.39 Humboldt berichtet Delamétherie, den er nun „mon bon et digne ami“ nennt, in einem Brief, der im Journal de physique, de chimie et d'histoire naturelle erscheint, von Beobachtungen und Messungen während der Überquerung des Atlantiks.40 Es folgen während der gesamten Amerikanischen Reise zahlreiche Briefe,41 deren Inhalt vollständig oder in Auszügen gedruckt wird. Er nennt diejenigen, die ihn begleiteten oder denen er begegnete: Bonpland, „ein junger franz. Gelehrter (Botanist)“42 ist „mon ami“,43 „der gute Bonpland“ oder „der arme Bonpland“.44 Die Einwohner Mittel- und Südamerikas werden hingegen i.a. namentlich nicht genannt: „Je fis mon premier voyage seul avec un Indien“,45 leitet er 1803 die Beschreibung des fast tödlich endenden Ausflugs auf den Krater des Pichincha ein. Mit der Rückkehr nach Europa ist Humboldt weltberühmt. Er wird als „unser berühmter Landsmann“ tituliert46 oder als „le célèbre voyageur“.47 Nicht nur Preußen und Frankreich feiern ihn, seine Texte werden ins Spanische, Englische und in weitere Sprachen übersetzt.48 Im Titel des Texts „Expériences sur les moyens eudiométriques, et sur la proportion des principes constituants de l’atmosphère; par MM A. Humboldt et J.-F. Gay-Lussac“49 steht sein Name nun an erster Stelle. Der Vortrag wurde von Gay-Lussac, der zehn Jahre jünger war als Humboldt, im Januar 1805 im Institut National gehalten. Dieser erwähnt aber den Impuls zu den beschriebenen Experimenten, der von Humboldt ausgegangen war, und rechnet es sich zur Ehre an, mit dem nun weltberühmten Tropenreisenden, dem er sich in „engster Freundschaft verbunden“ fühlt, zusammen zu forschen: „Zélé pour le progrès de la science, M. Humboldt a voulu remplacer ce travail de sa première jeunesse par un autre fondé sur des bases plus solides; lorsqu’il a commencé ses recherches, il a desiré m’y associer, et j’ai dû me sentir d’autant plus honoré de cette proposition, que depuis le retour de son voyage aux Tropiques nous sommes liés de l’amitié la plus étroite.“50 Der gedruckte Brief als Medium der Netzwerkbildung wird nun durch andere Methoden abgelöst. Aufschlussreich für Humboldts Umfeld und seine Beziehungen zu anderen Personen sind die Reden, in denen er seit seiner Rückkehr aus Amerika immer wieder ein jeweils anderes Publikum anspricht, in denen aber auch von Personen aus seinem Umkreis die Rede ist. Die Kriterien sind dabei gegenseitige wissenschaftliche Beeinflussung, politische Abhängigkeit oder Förderung und persönliche Verbindungen. „Unter allen Verbindungen […] gibt es keine edlere und schönere, als die, welche auf die Erweiterung des Wissens und auf freie Ausbildung intellektueller Kräfte abzweckt“,51 stellt Humboldt fest, um in seiner Antrittsrede als neu gewähltes Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Jahr 1805 auch den – von ihm namentlich nicht genannten – Lehrern seiner „früheren Jugend“ (darunter Willdenow), seinen Dank abzustatten. „Möchte ich heute beredt genug sein, diese Empfindungen mündlich eben so lebendig zu schildern, als feierlich der Augenblick für mich ist, in dem ich in Ihre Mitte trete, um an den Arbeiten von Männern Theil zu nehmen, deren viele die Lehrer meiner früheren Jugend gewesen sind.“52 Seinen persönlichen Bildungsauftrag der nächsten Generation gegenüber verstand Humboldt als umfassend. Er, der weltberühmte Forscher, kann nun selbst Empfehlungen – hier etwa für "genaue astronomische und geometrische Instrumente" – aussprechen: „Ich schmeichle mir in dieser Hinsicht, dem arbeitenden Theile des scientifischen Publicums einen nicht unangenehmen Dienst zu erweisen, wenn ich demselben anzeige, dass sich ein vortrefflicher Künstler, der in London und Paris sich unter vorzüglichen Meistern gebildet, Herr Nathan Mendelssohn (Sohn des berühmten Moses Mendelssohn) in Berlin niedergelassen hat. Seine Arbeiten bedürfen meiner Empfehlung nicht.“53 Humboldts internationales Renommee zeigt sich immer deutlicher. 1811 schreibt der Studienfreund und inzwischen sehr anerkannte Geologe Leopold von Buch: „Ich befinde mich bei Alex. von Humboldt, und in einem kleinen sehr geistvollen Kreise jüngerer Mitglieder des Institut des Sciences; nicht mit Unrecht werden Sie mir diese Lage beneiden.“54 Dass er als Autor mit seinen eigenen Ideen korrekt zitiert wird, ist Humboldt seiner Reputation in der Scientific Community schuldig: 1811 lässt er in Paris einen Artikel drucken, in dem er den englischen Kartographen Aaron Arrowsmith, der eine von Humboldt verfertigte Karte Mexikos ohne Nennung der Quelle kopiert hatte, des Plagiats aus seinem Werk bezichtigt.55 Eine ausführliche Würdigung erfährt der spanische Botaniker Don José-Celestino Mutis 1821 in einem Artikel: „Il n’ambitionnait d’autres succès que de faire triompher la vérité et la justice.“56 Mutis, den Linné als „phytologorum americanorum princeps“ bezeichnet hatte, nahm Humboldt und Bonpland 1801 mit „noble hospitalité“ in seinem Haus in Bogotá auf.57 Humboldt ist nun in der Lage, sich Berater und Quellen seines Wissens unter den internationalen Koryphäen seiner Zeit aussuchen zu können. Er veröffentlicht in den bereits genannten Disziplinen, aber auch zu agrarwissenschaftlichen und zoologischen Fragen und macht politische, kulturelle, ethnologische und historische Themen zum Gegenstand von Publikationen. Er selbst ist als Gutachter gefragt, so als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin: Zusammen mit vier anderen Mitgliedern, Martin Hinrich Lichtenstein, Heinrich Friedrich Link, Karl Asmund Rudolphi und Christian Samuel Weiß, verfasst er am 13. November 1826 einen „Bericht über die naturhistorischen Reisen der Herren Ehrenberg und Hemprich durch Ägypten, Dongola, Syrien, Arabien und den östlichen Abfall des habessinischen Hochlandes in den Jahren 1820–1825“ und trägt diesen in der Akademie selbst vor. Wie wichtig ihm die Tatsache ist, dass seine eigenen Vorlesungen, die er 1827 in der Singakademie und in der Berliner Universität hält, für jeden frei zugänglich seien, und dass er diese Vorlesungen in Paris unter denselben Bedingungen zu halten gedachte, entnimmt man einer Richtigstellung, die er am 23. Februar 1828 an den in Paris erscheinenden Moniteur Universel adressiert: „J’ai ouvert deux cours publics; et en Allemagne comme en France, on ne paie pas pour obtenir le droit d’assister à un cours public.“58 Als er 1828 die Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte in Berlin eröffnet, kann er in seiner Rede selbstbewusst den großen deutschsprachigen Naturforschern seine Reverenz erweisen, die wohl auch seinetwegen so zahlreich wie nie zuvor teilnehmen und auf seine Initiative hin das erste Mal die Versammlung in Berlin abhalten. Nachdem Humboldt auch Goethe, Olbers, Sömmering und Blumenbach als herausragende Mitglieder der deutschen Gesellschaft genannt und Lichtenstein, „meinem edlen Freunde“, für die Organisation gedankt hat, endet die Rede in einer Panegyrik für den Preußischen König, „der sich huldreich jedem Talente zuneigt, und freyer Ausbildung des Geistes vertrauensvoll seinen königlichen Schutz verleiht.“59

Die Zeit in Berlin (1829–1859)

Herrscherlob gehört zum Geschäft. Die Rede, die Humboldt 1829 vor der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften am Schluss seiner Russland-Reise hält, endet, nach einem ausführlichen Bericht über ihre wissenschaftlichen Resultate – auch diese von Humboldt übrigens nicht als nur eigene, sondern als das Produkt gemeinsamer Forschungen mit Christian Gottfried Ehrenberg und Gustav Rose präsentiert – mit einer tiefen Verbeugung vor dem Zaren, der Humboldts Expedition finanziert und politisch ermöglicht hatte: „Le MONARQUE auguste qui a daigné m’appeler dans ce pays et sourire à mes travaux, se présente à ma pensée comme un génie pacificateur. Vivifiant Par son exemple tout ce qui est vrai, grand et généreux, Il s’est plû, dès l’aurore de Son règne, à protéger l’étude des sciences qui nourrissent et fortifient la raison, celle des lettres et des arts, qui embellissent la vie des peuples.“60 Dass Humboldt die Zensur im russischen Zarenreich sehr wohl kannte und eigene Ansichten zu den unmenschlichen Lebensbedingungen der Leibeigenen unterdrücken musste, ist bekannt. Die Einladung zu einer zweiten Russland-Expedition lehnte er ab.61 Humboldt genießt nun selbst ein Ansehen, das ihm Ehrungen aller Art einbringt. Besonders der akademischen Jugend bleibt er bis ins hohe Alter zugewandt: „[A]ber die Bande, welche die alternden, hinschwindenden Geschlechter an die jungeren, kraftvoll aufstrebenden dadurch knüpft daß Alle im academischen Leben aus einer Quelle geschöpft, sind in dem Wechsel der Begebenheiten ungeschwächt geblieben.“62 Humboldt nimmt im September 1837 an der Hundertjahrfeier der Georgia Augusta teil und wendet sich in einer Dankesrede an die Studenten der Göttinger Universität, die ihn vor seinem dortigen Quartier (in der Dieterichschen Buchhandlung) enthusiastisch feiern.63 Das Vorwort zu den Reisen in Guiana und am Orinoco während der Jahre 1835–1839 von Robert Schomburgk ist ein Beispiel dafür, wie Humboldt seine eigenen Forschungen in der nächsten Generation Forschungsreisender fortgesetzt sieht, und gleich auch die Gelegenheit wahrnimmt, ein paar seiner Messdaten nun korrigieren zu können: „Mir ist noch die Freude geworden, eine so wichtige Erweiterung unseres geographischen Wissens erlebt zu haben, die Freude auch, dass ein so kühnes, wohlgeleitetes, die hingebendste Ausdauer erheischendes Unternehmen von einem jungen Manne ausgeführt worden ist, mit dem ich mich durch Gleichheit der Bestrebungen, wie durch die Bande eines gemeinsamen Vaterlandes verbunden fühle.“64 Die Aufgabe, Nachrufe zu schreiben, wird nun an den alternden Humboldt, der viele seiner Wegbegleiter überlebt, immer wieder herangetragen. Aus ihnen wird deutlich, wie sehr Humboldts wissenschaftliche und menschliche Verbindungen mit Kollegen wahrgenommen wurden und wie er selbst sich in diesen Kreisen, trotz seines hohen Alters, immer noch souverän bewegt. Ein Beispiel ist der Nachruf auf Carl Sigismund Kunth, den Neffen seines Berliner Lehrers, geschrieben 1851: „Wen konnte aber sein frühes Hinscheiden tiefer in dem Innersten seiner Gefühle erschüttern als mich, der dem Freunde bei einer 37 Jahre lang dauernden Gemeinschaft der Ideen und Bestrebungen einen großen Theil der Gunst und der Aufmerksamkeit verdankt, welche das Publikum meinen und Bonpland’s botanischen Forschungen in der Aequinoctial‐Zone so reichlich und anhaltend geschenkt hat?“65 Eine Rede im Jahr 1852 versammelt noch einmal all jene, die zusammen mit Humboldt zu den glanzvollsten Gestalten in der Berliner Gesellschaft und Scientific Community gehörten. Zur Errichtung eines Denkmals für den Zoologen und Gründer des Berliner Zoologischen Museums, Martin Karl Hinrich Lichtenstein, haben sich mit Humboldt zusammengetan: Fürst Bogislaw von Radziwill, Kammerherr Leopold von Buch, Graf von Itzenplitz, Generalmajor Encke, Bankier W. Brose, Carl Ritter, Johannes Müller, August Boeckh, Eilhard Mitscherlich und Johann Franz Encke.66 Humboldt hatte, als Lichtenstein 1840 ein Memorandum für die Errichtung eines Zoologischen Gartens vorlegte, diese dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. empfohlen, der daraufhin 1841 die Gründung des Berliner Zoos ermöglichte. Leopold von Buch und Humboldt kannten sich seit dem gemeinsamen Studium in Freiberg. Von Buch starb im März 1853. „Sans lui je me crois bien isolé; je le consultai comme un maître, et son affection (comme celle de Gay Lussac et d’Arago, qui étoient ses amis aussi) m’a soutenu dans mes travaux“,67 schreibt Humboldt in dem Nachruf, den er an Roderick Murchison schickt, der dieses Zeugnis der 63 Jahre dauernden Beziehung als „touching sketch“ „between the great geologist we have lost, and the illustrious veteran who survives“68 bezeichnet. Für den 1853 verstorbenen François Arago, einen der engsten Freunde, schreibt Humboldt 1856 ein Vorwort zur deutschen Ausgabe von dessen sämtlichen Werken. „Ich habe die Einleitung, welche ich zu Arago’s sämmtlichen Werken auf das Ansuchen seiner Familie geschrieben, mit dem Wunsche geschlossen, dass mein Name oft neben seinem, mir theuren Namen genannt werde. Mehrere Jahre sind seitdem verflossen; aber da mir im hohen Alter, nach einem vielbewegten, arbeitsamen Leben, die nicht zu erwartende Freude geworden ist, von der ausgezeichneten vaterländischen Uebersetzung dieser Werke noch 6 Bände erscheinen zu sehen: so glaube ich, meinen Grundsätzen treu, eine letzte Pflicht der Freundschaft zu erfüllen, indem ich durch diese Zeilen das Interesse meiner Zeitgenossen für ein so wichtiges und vielversprechendes Unternehmen zu beleben suche.“69 Bei einem Thema bleibt Humboldt in seiner seit den Erfahrungen in Amerika gefassten Meinung unnachgiebig: Zu der unvollständigen Übersetzung des 1826 auf französisch erschienenen Essai politique sur l'île de Cuba ins Englische, die John Sidney Thrasher 1856 herausbringt, lässt Humboldt einen offenen Brief publizieren, in dem er darauf aufmerksam macht, dass das Kapitel, in dem er den Sklavenhandel anprangert, zwar in der spanischen, nicht aber in der englischen Übersetzung übernommen wurde. „[I]ch glaube dagegen auch fordern zu dürfen, daß man in den freien Staaten des Continents von Amerika lesen könne, was in der spanischen Übersetzung seit dem ersten Jahre des Erscheinens hat circulieren dürfen.“70 Humboldt kann bei seinem Ansehen und seiner internationalen Bekanntheit damit rechnen, dass seine Ansicht Gewicht hat. 1857 veröffentlicht Humboldt zusammen mit der Tochter seines Kammerdieners Seifert, Caroline Möllhausen, eine Abhandlung über die „Expedition zur wissenschaftlichen Erforschung des Rio Colorado, in den der Rio Gila mündet“71 von Carolines Gatten, Balduin Möllhausen. 1858 wird Humboldt dann das Vorwort zum Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee72 verfassen, das Balduin Möllhausen in Leipzig veröffentlicht. Humboldts Eintrag im sog. „Radetzky-Album“ des Jahres 1857, das zum Eintritt des großen österreichischen Heerführers in den Ruhestand gedruckt wurde, ist ein Beispiel dafür, wie Humboldt sich gesellschaftlich und politisch unter Rückgriff auf seine beträchtliche Belesenheit zu Wort meldet: Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das Höchste doch, – Wenn der Leib in Staub zerfallen, Bleibt der grosse Name noch! (Schiller. Das Siegesfest.) 73 Dieses Schiller-Zitat, mit dem Humboldt den kaum älteren Radetzky vielleicht ebenso meint wie sich selbst, ist auch deshalb interessant, weil Humboldts Hochachtung gegenüber Schiller wohl immer noch beschädigt war.74 Er ärgerte sich so sehr über eine Charakteristik durch Schiller, der in einem Brief an Körner geschrieben hatte: „Alexander Humboldt ist ein beschränkter Verstandesmensch, der troz aller rastlosen Thätigkeit nie etwas Grosses leisten wird.“,75 dass er dieses Zitat sogar in seinem Adressbuch immer zum Zitieren parat hielt.
Abb. 1: Humboldts Adressbuch [Bildnachweis]
Erstaunlich kühl scheint Humboldt öffentlich auf die Nachricht vom Tod seines Reisebegleiters Aimé Bonpland zu reagieren. Am 10. August 1858 veröffentlicht er in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen eine kurze Notiz über dessen Tod am 4. Mai des Jahres,76 nachdem er am 13. Juli noch die Spekulationen über den Tod „meines theuren, edlen Freundes und Reisebegleiters“ im fernen Argentinien als bisher unbegründet nicht hatte wahrhaben wollen.77 Eine Person tritt in den Schriften nicht auf und ist doch eine der wichtigsten Bezugspersonen Humboldts seit 1827: Karl August Varnhagen von Ense, der Freund und Mittelpunkt des gesellschaftlichen und literarischen Preußen. Liest man den zu Lebzeiten ungedruckten Brief, den der greise Humboldt am 12. Oktober 1858 an Varnhagens Nichte, Ludmilla Assing, schreibt, als er durch diese vom Tode ihres Onkels erfahren hatte, kommt einem Humboldts Schmerz um den verstorbenen Freund doch näher: „Was er mir war, was er mir dem nun ganz vereinzelten war, das können Sie […] allein ganz fassen. […] Mit tiefem Seelenschmerze Ihr Al. Humboldt.“78

Humboldts Selbstvermarktung und Imagepolitik

Es lassen sich nun in der Zeit seines Lebens ausführlich benutzten ‚kleinen Form‘ der Schriften ein paar wesentliche Merkmale von Humboldts öffentlich verfolgbaren Strategien festhalten, die ihm letztlich wissenschaftlichen Weltruhm brachten. Obwohl er schreibt: „Ich hasse in den Tod die Menschen, die immer abmessen und abwiegen, ob es wohl zuträglich sei, diesen oder jenen ihrer Freundschaft zu würdigen“,79 kann man den Schriften doch folgende strategische Grundzüge entnehmen: 1. Humboldt war ein zeitlebens Lernender und bezeichnete sich auch so. Seine Wissensquellen waren, neben der Fachliteratur, seine zahllosen persönlichen wissenschaftlichen Kontakte und Netzwerke. 2. Humboldt nutzte seine besondere Begabung, Kontakte zu knüpfen. Schon als junger Mann konnte er mit bereits etablierten Wissenschaftlern zusammen publizieren. Spätestens seit der Rückkehr aus Amerika war er dann selbst auch derjenige, der andere zur Mitarbeit anregt. Er behält die Form der gemeinsamen Veröffentlichungen und des gemeinsamen Forschens bis an sein Lebensende bei. 3. Humboldts freundschaftliche wissenschaftliche Beziehungen hielten meist lebenslang. 4. Er benutzt souverän die ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mittel:
  1. Rezensionen, um bekannt zu werden;
  2. Briefe, um auch während seiner Abwesenheit in Europa nicht vergessen zu werden;
  3. Reden, um selbst Präsenz zu zeigen;
  4. Nachrufe, um selbst ‚lebendig‘ zu bleiben.
5. Humboldt behandelte in seinen Schriften mehrheitlich naturwissenschaftliche Fragen. Rein politische sowie philologische Texte, wiewohl er sich zeitlebens in Briefen politisch äußerte, sich in seinen Buchwerken auch mit ästhetischen Fragen beschäftigte und in allen möglichen Disziplinen zu Hause war, sind erst ab den 1840er und insbesondere in den 1850er Jahren vermehrt in dieser aktuellen Form gedruckt worden. 6. Damit hängt zusammen, dass in den Schriften fast nur Namen von Naturwissenschaftlern vorkommen. Humboldt achtete darauf, diejenigen zu erwähnen, denen er zu Dank verpflichtet war (wissenschaftliche Vorbilder, Lehrer) oder deren Freundschaft der Öffentlichkeit bekannt sein sollte. Diese ‚öffentlichen‘ Kontakte konnten dabei sowohl für ihn als auch für die Adressaten von Nutzen sein. – Eine andere Art opportuner Kontakte stellten die Herrscher seiner Zeit dar, die er vorbehaltlos und ohne Skrupel in seinen Dank einschloss. Auf ihre Unterstützung war er zeitlebens angewiesen. 7. Hinweise auf die Zuarbeit von anderen Forschern, sofern sie in der Wissenschaft bedeutend waren, finden sich häufig. Indigene Quellen und wenig bekannte Informanten kommen indes in den Schriften kaum vor. Zwar wird sein Reisebegleiter Bonpland häufig erwähnt, aber nicht als ebenbürtiger Forscher. 8. Seinen persönlichen Bildungsauftrag der nächsten Wissenschaftsgeneration gegenüber verstand Humboldt dagegen als umfassend. Seine Ideen sollten jeden erreichen. Die Hochachtung, die ihm von jungen Wissenschaftlern entgegengebracht wurde, bezeugt, dass er das persönliche Bildungsideal weiterzutragen in hohem Maße befähigt war. 9. Humboldt gab sein soziales Netzwerk durch die Schriften (die ja eine wesentlich größere Verbreitung gefunden haben als seine Buchwerke) öffentlich zu erkennen. Es scheint ihm also einiges daran gelegen zu haben, seine Vernetzung kenntlich zu machen. 10. Humboldt blieb in allen Schriften kühl und distanziert, private und intime Verbindungen hatten in dieser Form der Öffentlichkeit nichts zu suchen. So gesehen lassen sich seine Schriften auch wie ein Vademecum für eine Karriere in der Forschung lesen.

Forschungsstand zu Netzwerken Humboldts und darüber hinaus

Humboldts persönliche und wissenschaftliche Netzwerke wurden bisher noch nicht umfassend aufgearbeitet. Zum Hintergrund können neben den verschiedenen Briefausgaben, die die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften herausbringt, etwa folgende Publikationen interessant sein: Eine zusammenfassende Darstellung der komplizierten Nachlasssituation bei Humboldt bietet: Dominik Erdmann und Jutta Weber, „Nachlassgeschichten“ (2015). Zum Adressbuch Humboldts gibt eine kurze Einführung: Jutta Weber, „Schiller in den Briefen an Körner sagt erst von mir ich sei viel geistreicher, begabter als mein Bruder!!“ (2012). Über die Möglichkeiten, welche die Digitalisierung gesamter handschriftlicher Nachlässe bietet, liest man bei: Jutta Weber, „Alexander von Humboldt und die anderen“ (2014). Wie Netzwerke und ihr Inhalt elektronisch auffindbar und wissenschaftlich auswertbar werden können, stellen am Beispiel Albrecht von Hallers dar: Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz (2005). Zugang zum gesamten, elektronisch erschlossenen und mit allen Texten online verfügbaren handschriftlichen Nachlass bietet: das Alexander von Humboldt-Portal der Staatsbibliothek zu Berlin. Als Sucheinstieg zu Autographen und Nachlässen des europäischen Kulturerbes dient: der Kalliope Verbundkatalog. Eine exemplarische Fallstudie für die Rekonstruktion des Korrespondenz-Netzwerks der Schriften anhand eines vermeintlichen Briefs Humboldts an Heinrich von Kleist bietet: Thomas Nehrlich, „Sensationsfund oder falsche Fährte?“ (2018).

Humboldts Netzwerke und ihr Fortleben

Humboldt wurde wegen seines ungewöhnlich breit gespannten wissenschaftlichen Horizonts, wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeit zu kommunizieren, wegen seines Enthusiasmus und seiner gesellschaftlichen Gewandtheit wie wenige andere schon zu Lebzeiten und bis heute Thema der Literatur. Viele Beispiele, von Goethe über Balzac und Andersen bis zu Ezra Pound, Ernst Jünger und Daniel Kehlmann finden sich in: Rex Clark und Oliver Lubrich (Hrsg.), Transatlantic Echoes. Alexander von Humboldt in World Literature (2012). Am berühmtesten ist sicher die Stelle in den Wahlverwandtschaften, in denen Goethe 1809 Ottilie in ihr Tagebuch eintragen lässt: „Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger alltäglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elephanten und Tiger zu Hause sind. Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören.“80 Dass Adelbert von Chamisso Humboldt in seiner Märchenerzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) ein Denkmal zu Lebzeiten setzte, ist wohl die literarisch schönste Textualisierung der Bewunderung, die Humboldt nach der Rückkehr von seiner Amerikareise erfuhr.

Ein lohnenswertes Forschungsthema

Humboldts Netzwerke und Begegnungen anhand der auch elektronisch edierten Berner Schriften quantitativ und qualitativ zu untersuchen, etwa indem die von ihm in einem bestimmten Jahr oder über einen bestimmten Zeitraum genannten Namen festgestellt werden, kann ein reizvolles Projekt sein, zumal wenn die vorliegenden Briefeditionen mit einbezogen werden könnten. Es würde sich außerdem lohnen, die nur handschriftlich überlieferten, mehr und mehr aber elektronisch verfügbaren Texte Humboldts und seine Schriften zueinander in Beziehung zu setzen und die Äußerungen des ‚öffentlichen‘ Humboldt mit denen des ‚privaten‘ zu vergleichen. Es stehen nun alle Quellen zur Verfügung, um die Qualität seiner Netzwerke, sein eigenes Dazutun und das Weiterwirken, zum Beispiel in den Korrespondenzen seiner Briefpartner mit anderen, zu untersuchen. Die Methoden des Projektes Haller online – Editions- und Forschungsplattform81 bieten für derartige Untersuchungen einen sehr interessanten Ansatz. Elektronisch verfügbar, werden Humboldts Texte in bekannten ebenso wie in noch ungeahnten Zusammenhängen ein breites Spektrum neuer Forschungsansätze bieten.

Abbildung

Abb. 1: Humboldts Adressbuch. © Fotostelle Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der SBB-PK.

Bibliographie

Internetquellen

(alle zuletzt abgerufen am 20.07.2018)

Gedruckte Quellen

  • Karl Bruhns (Hrsg.), Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie, 3 Bände, Leipzig: Brockhaus 1872.
  • Sarah Bärtschi, Layered Reading: Wie kann man das Gesamtwerk eines Autors lesen? Quantitative und qualitative Methoden am Beispiel der unselbständigen Schriften Alexander von Humboldts, Dissertation, Universität Bern 2018.
  • Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1945, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2008.
  • Rex Clark und Oliver Lubrich (Hrsg.), Transatlantic Echoes. Alexander von Humboldt in World Literature, New York, NY, Oxford: Berghahn 2012.
  • Hartmut Böhme, „Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung“, in: Ernst Osterkamp (Hrsg.), Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern: Lang 2002, S. 167–192.
  • Dominik Erdmann und Jutta Weber, „‚Nachlassgeschichten‘ – Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau“, in: Humboldt im Netz 16:31 (2015), S. 58–77.
  • Johann Wolfgang von Goethe, „Die Wahlverwandtschaften“, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Band 3: Faust I und II. Die Wahlverwandtschaften, hrsg. von Albrecht Schöne und Waltraud Wiethölter, Frankfurt/Main: Insel 2007, S. 405–623.
  • Frank Holl (Hrsg.), Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens (Ausstellungskatalog), Berlin: Haus der Kulturen der Welt 1999.
  • Alexander von Humboldt, Briefe an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, hrsg. von Ludmilla Assing, Leipzig: Brockhaus 1860.
  • Alexander von Humboldt, Es ist ein Treiben in mir. Entdeckungen und Einsichten, hrsg. von Frank Holl, München: dtv 2009.
  • Tobias Kraft, „Von den Sprachen in die Welt und wieder zurück. Anschwellende Redevielfalt und Textgenesen im Werk Alexander von Humboldts“, in: Anne Baillot (Hrsg.) Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011, S. 369–398.
  • Oliver Lubrich, „Editorischer Bericht“, in: Alexander von Humboldt, Zentral-Asien, hrsg. von Oliver Lubrich, Frankfurt/Main: Fischer 2009, S. 823–843.
  • Thomas Nehrlich, „Sensationsfund oder falsche Fährte? Über einen ‚Brief an Kleist‘ in der ‚Berner Ausgabe‘ von Alexander von Humboldts Schriften“, in: Zeitschrift für Germanistik 28.3 (2018), S. 604–615.
  • Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: Beck 1993.
  • Rüdiger Schaper, Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten, München: Random House 2018.
  • Ingo Schwarz, „‚Ein beschränkter Verstandesmensch ohne Einbildungskraft‘. Anmerkungen zu Friedrich Schillers Urteil über Alexander von Humboldt, in: Humboldt im Netz 4:6 (2003), S. 1–8.
  • Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz. Ein Europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel: Schwabe 2005.
  • Christian Suckow, „Im Spannungsfeld zwischen Zarismus und Julikönigtum. Ein unbekannter Brief Alexander von Humboldts“, in: Hanno Beck (Hrsg.), Natur, Mathematik und Geschichte. Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung und zur Mathematikhistoriographie, Leipzig: Barth 1997, S. 99–113.
  • Jutta Weber, „‚Schiller in den Briefen an Körner sagt erst von mir ich sei viel geistreicher, begabter als mein Bruder!!‘ Das Adressbuch Alexander von Humboldts“, in: Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 2 (2012), S. 3–8.
  • Jutta Weber, „Alexander von Humboldt und die anderen“, in: Holger Meyer, Christoph Schmitt, Stefanie Janssen, Alf-Christian Schering (Hrsg.), Corpora ethnographica online. Strategien der Digitalisierung kultureller Archive und ihrer Präsentation im Internet, Münster: Waxmann 2014, S. 19–28.