Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 4

Mehrsprachigkeit und Übersetzung

Leben und Schreiben zwischen den Sprachen

Alexander von Humboldts Leben und Werk vollzogen sich in vielfältigen Transfers. Dies gilt räumlich für den Wechsel seiner Lebensstationen und seine ausgedehnten Forschungsreisen, es gilt institutionell für seine kooperativen Beziehungen als weltweit vernetzter Wissenschaftler, und es gilt für die Sprach-, Genre- und Medienwechsel seines Schreibens und Publizierens. Man kann Humboldt auf all diesen Ebenen als Übersetzer bezeichnen – in einem weiten Verständnis von Übersetzung, das neben sprachlichen Übertragungen auch die „Notwendigkeit kultureller Übersetzungsprozesse“ meint und auf ein „Immer-Schon-Übersetzt-Sein“ von Kulturen in ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit verweist.1 Allerdings sind die kulturellen Transfers, als die und in denen Humboldt seine Forschungen realisierte, ihrerseits sämtlich sprachgebunden. So ging etwa die wiederholte Verlagerung des Lebensmittelpunkts mit der Vorliebe für bestimmte Wissenschaftssprachen einher, und die Ausdehnung des Kooperationsnetzes begünstigte das Zustandekommen von Übersetzungen seiner Arbeiten in andere Sprachen – durch die sich wiederum das Netz der Beziehungen weiter ausdehnte. Daher lässt sich der im weiteren Sinne übersetzende Charakter von Humboldts wissenschaftlichem Wirken auf die interlingualen Übersetzungen hin engführen, die untrennbar mit der mehrsprachigen Genese seines Gesamtwerks verbunden sind.2 Humboldts frühe Jahre waren in zweifacher Hinsicht durch Mehrsprachigkeit geprägt, zum einen durch die deutsch-französische Bilingualität in Preußen unter Friedrich II., zum anderen durch den Unterricht in den klassischen Sprachen Griechisch und Latein. Schon in den ersten Publikationen Humboldts bildet sich diese Mehrsprachigkeit ab: „Seinen ersten Text 1789 verfasste er auf Französisch für die Gazette littéraire de Berlin; 1790 publizierte er auf Deutsch in den Chemischen Annalen und auf Lateinisch in den Annalen der Botanik.“3 Auch seine frühe Studie über die Bergwerksflora, Florae Fribergensis specimen (1793), veröffentlichte Humboldt auf Latein. Doch bereits die erste wissenschaftliche Buchpublikation, Mineralogische Betrachtungen über einige Basalte am Rhein (1790), war auf Deutsch erschienen, ebenso wie die weiteren selbständigen Publikationen und der größte Teil der Schriften in den 1790er Jahren. Schon in dieser Zeit wurden Humboldts Arbeiten bemerkenswert oft – und in verschiedene Sprachen – übersetzt. Eine von vornherein internationale Unternehmung war die Amerikareise des deutsch-französischen Forschungsduos Humboldt und Bonpland zwischen 1799 und 1804. Von der spanischen Krone unterstützt, führte sie ins Vizekönigreich Nueva España; die Reisenden hatten es mit verschiedenen europäischen (Kolonial-)Sprachen und einer Vielzahl indigener Sprachen zu tun. Mehrsprachigkeit war daher die Regel und Übersetzung eine alltägliche Notwendigkeit. Dies galt aber nicht nur für die Pragmatik forschenden Reisens, sondern auch für dessen Weiterbearbeitung und Distribution. Schon Humboldts zeitweiliger Mentor Georg Forster hatte den Bericht seiner Weltreise 1777 zuerst auf Englisch publiziert, ein bzw. drei Jahre später – mit redaktioneller Hilfe – eine deutsche Selbstübersetzung in zwei Bänden veröffentlicht und zudem noch eine französische Version geplant. Für die publizistische Auswertung der Amerikareise bot sich das Französische als verbreitetste europäische Wissenschaftssprache des frühen 19. Jahrhunderts an, zumal Humboldt sich für die folgenden zwanzig Jahre weitgehend in Paris aufhielt. In der Tat sind die Buchpublikationen des Reisewerks zuerst auf Französisch erschienen,4 doch im Corpus der Schriften überwiegt während der Pariser Zeit die Anzahl deutschsprachiger Veröffentlichungen weiterhin die der französischen.5 Auch die Ansichten der Natur erschienen 1808 zuerst auf Deutsch. In derselben Phase nahm die Anzahl englischer Übersetzungen erheblich zu: Sie machte in den 1810er Jahren fast die Hälfte aller Publikationen aus und blieb auch in den folgenden Jahrzehnten beträchtlich, als Humboldt vor allem in den Vereinigten Staaten breit rezipiert wurde. Mit der Rückkehr nach Berlin in den 1820er Jahren wurden die Schriften in mehr und mehr europäische Sprachen übersetzt, etwa ins Russische und Ungarische. Der Anteil des Französischen ging zwar zurück, es behielt aber als Publikationssprache für Humboldt einen herausgehobenen Stellenwert, etwa für die Darstellung der Hauptergebnisse seiner Russlandreise in den Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques (1831) und den drei Bänden der Asie centrale (1843). Der Kosmos (ab 1845) wurde wieder auf Deutsch verfasst. Diese letzte und umfangreichste Monographie erlebte unter Humboldts Werken die meisten Übersetzungen und die größte Verbreitung. Der von Alexander von Humboldt initiierte, mit seinem Namen aufs engste verbundene internationale Wissenstransfer war so nur in Form von Übersetzungen möglich. Sie trugen entscheidend zur globalen Präsenz Humboldts bei, der in eben dieser Hinsicht „der internationalste Publizist seiner Zeit“6 genannt werden kann. Darauf hinzuweisen ist gerade heute von Interesse, da Humboldt vielfach – und vielfach zurecht – zum historisch ersten Vertreter eines emphatischen Welt-Begriffs erklärt wird. Für diese Tendenz sprechen die Titel oder Untertitel so unterschiedlicher Humboldt-Bücher aus den letzten zwei Jahrzehnten wie Weltbewußtsein (Ottmar Ette, 2001), Alexander von Humboldt und die Globalisierung (Ders., 2009), Die Vermessung der Welt (Daniel Kehlmann, 2005), Alexander von Humboldt’s New World (Andrea Wulf, 2015) oder Der Preuße und die neuen Welten (Rüdiger Schaper, 2018). Die Ausdrücke ‚Welt‘ und ‚Welten‘ referieren dabei auf die Erde, die Erdteile und den Kosmos, also auf Humboldts „latent globalen Forschungsgegenstand“; ‚Welt‘ meint aber auch die weltweite Ausdehnung und Verflechtung der Forschungstätigkeit, einhergehend mit dem Ziel Humboldts, „seine Schriften möglichst international und allgemein zu verbreiten.“7 So ergibt sich ein enger Konnex von Weltbezügen und Sprachverhältnissen, der sich beispielhaft an Phänomenen der Übersetzung aufweisen lässt.

Übersetzungen der Buchpublikationen

Schon vor der Amerikareise wurden Werke Humboldts übersetzt. Die erste Übersetzung einer Buchpublikation aus dem Deutschen ins Französische war die der zweibändigen Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser von 1797/99, veranstaltet von dem Physiologen Jean François Nicolas Jadelot.8 Er publizierte zunächst 1798 Auszüge des ersten Bandes in mehreren Lieferungen des Journal de physique, de chimie, d’histoire naturelle et des arts, bevor er 1799 die vollständige Übersetzung herausbrachte, und zwar – bereits im Untertitel ausgewiesen – „avec des additions“. Solche herausgeberischen Eingriffe waren bei wissenschaftlichen Publikationen im 18. und 19. Jahrhundert durchaus üblich. Sie kennzeichneten bereits die einige Jahre zuvor erschienene Übersetzung von Humboldts Florae Fribergensis specimen. Der Titel der deutschen Version von 1794, Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen, zeigt an, dass nur ein Teil der lateinischen Publikation – eben die „Aphorismi“ zur Physiologie – übersetzt wurde. Der längere erste, der Beschreibung der Bergwerksflora gewidmete Teil blieb unübersetzt; dafür kamen ein umfangreicher Abschnitt mit „Zusätzen“ sowie zahlreiche Fußnoten hinzu, die außer von den Herausgebern, den Leipziger Botanikern Johann Hedwig und Christian Friedrich Ludwig, auch vom Übersetzer Johann Gotthelf Fischer stammten. Übersetzung und Kommentierung, Herausgeberschaft und Textrevision wurden also arbeitsteilig übernommen und verselbständigten sich in gewisser Weise gegenüber Humboldts lateinischer Vorlage, was sich etwa in der Widmung des auf dem Titelblatt prominent figurierenden Übersetzers Fischer an den Mitherausgeber Hedwig äußert. Dennoch bleibt Humboldt, den der Vorredner Ludwig seinen „eben so eifersüchtig geliebte[n], als wahrhaft geschäzte[n] Freund“ nennt,9 eine namhafte Instanz für die Beglaubigung und Autorisierung der deutschen Ausgabe, der dem beauftragten Übersetzer Fischer die „Erlaubnis“ erteilt hatte, „ihm die Uebersetzung zur Revision zu überschicken, so dass sie also unter Aufsicht des Verfassers selbst genau und mit Sorgfalt gefertiget worden ist.“10 Diese Doppelbewegung von sich verselbständigender Übersetzung einerseits und Autorisierung durch den Verfasser des Originals andererseits bleibt für die weiteren Übersetzungen von Humboldts Büchern charakteristisch – innerhalb der Sprachkompetenzen des Autors, die sich auf die romanischen Sprachen, das Englische und, wenngleich in geringerem Maße, das Niederländische und die skandinavischen Sprachen erstreckten.11 Humboldts größter publizistischer Erfolg neben dem Kosmos, die auf Deutsch geschriebenen Ansichten der Natur, erschien zu seinen Lebzeiten in drei Auflagen 1808, 1826 und 1849. Alle drei Auflagen wurden ins Französische, je einzelne Auflagen ins Englische, Niederländische, Polnische, Russische und Tschechische übersetzt. Im Fall der drei slawischen Sprachen erschienen bis zur Mitte des Jahrhunderts überwiegend Teilübersetzungen in Zeitschriften,12 womit sich – wie bereits in den französischen Teilpublikationen der physiologischen Versuche – selbständige und unselbständige Erscheinungsweisen vermischen. Aufschlussreich für das Verhältnis zur deutschen Vorlage sind vor allem die Übersetzungen ins Englische und Französische. Die französische Übersetzung der ersten Auflage, angefertigt von Jean Baptiste Benoît Eyriès, erschien 1808, also noch im selben Jahr wie die deutsche Version, die der zweiten, ebenfalls von Eyriès, zwei Jahre nach der deutschen (und ein Jahr nach Humboldts Übersiedlung von Paris nach Berlin) im Jahr 1828. Der Übersetzer konnte sich in beiden Fällen auf einen engen Kontakt zum Autor berufen: In seiner ersten „Préface du traducteur“ weist Eyriès darauf hin, dass Humboldt seiner Arbeit „une sorte de sanction“ gegeben habe,13 in der zweiten bemerkt er, dass Humboldt selbst die Übersetzung beauftragt und ,approbiert‘ habe.14 Von der dritten Auflage der Ansichten entstanden im Französischen wie im Englischen in den Jahren 1849–1851 je zwei konkurrierende Übersetzungen, wobei sich im Englischen die Konkurrenz schon in der unterschiedlichen Wahl des Titelworts ausdrückt: Elizabeth Juliana Sabine übersetzte die Ansichten als Aspects, Elise Otté und Henry G. Bohn als Views. Im Französischen blieben sowohl Ferdinand Hoefer als auch Charles Galusky bei dem von Eyriès etablierten Titel Tableaux de la nature. Galusky weist in seinem „Avertissement du traducteur“ auf die unmittelbare Beauftragung durch Humboldt hin, wiederholt also Eyriès’ Berufung auf den Verfasser des Originals.15 Ausdrückliche Unterstützung durch Humboldts Verleger Georg von Cotta erfuhr weder dieses noch das andere französische Übersetzungsprojekt, sondern ausschließlich eines der englischen, nämlich das von Sabine, während Humboldt selbst zunächst das von Otté und Bohn bevorzugte.16 Die mehrfache Übersetzungskonkurrenz – jeweils innerhalb und auch zwischen den Sprachen – zeigt an, wie komplex und zugleich ungeregelt das Feld der internationalen Literaturbeziehungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts war. Vor allem aber ist sie ein klares Indiz für Humboldts internationales Renommee als wissenschaftlicher Autor von literarischem Rang, das zu jenem Zeitpunkt durch die ersten Bände des Kosmos nochmals zugenommen hatte. Dieses späte Hauptwerk Humboldts wurde zu seinen Lebzeiten außer ins Englische und Französische auch ins Spanische und Italienische, Dänische und Schwedische, Niederländische, Polnische, Russische und Ungarische übersetzt. Im Englischen gab es drei konkurrierende Versionen, wobei die zuvor genannten Akteure auch hier beteiligt waren: Seit 1846 erschien eine Übersetzung von Sabine, seit 1849 eine von Bohn und Otté. Schon zuvor, seit 1845, hatte sich Augustin Prichard an eine Übersetzung gemacht, die aber, anders als die parallelen Unternehmungen, nicht abgeschlossen, sondern nach den beiden ersten Bänden eingestellt wurde. Bohn als Verleger der zuletzt begonnenen Ausgabe setzte sich in seiner Vorrede von den Mitbewerbern ab, denen er teils fehlende Präzision im Ausdruck, teils das Auslassen ganzer Passagen vorwarf.17 Humboldt selbst befürchtete offenbar ähnliche Mängel in der französischen Übersetzung und entschied sich daher, wenn schon nicht die gesamte Arbeit selbst zu übernehmen, so doch die Einleitung zum ersten Band zu übertragen. Hervé Faye, der den Rest des ersten Bandes übersetzte, hebt in seinem „Avertissement du traducteur“ hervor, dass dabei keine strikte Übersetzung, sondern eher eine anderssprachige Neufassung entstanden war.18 Das in den Pariser Jahren verfertigte Reisewerk mit seinen sechs Bänden und diversen Teilbänden erfuhr zu Humboldts Lebzeiten zahlreiche Übersetzungen, die teils in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur jeweiligen Erstpublikation, teils mit jahrzehntelangem Abstand erschienen.19 Wichtige Zielsprachen neben dem Deutschen waren bis in die späten 1850er Jahre das Englische und Spanische. Charakteristisch für das Reisewerk ist die Vielzahl der beteiligten Mitverfasser: Die Gesamtpublikation erschien unter der doppelten Autorschaft von Humboldt und Bonpland, hinzu kamen etwa Georges Cuvier als Mitarbeiter am Recueil d’observations de zoologie et d’anatomie comparée (ab 1811), Karl S. Kunth als Verfasser der Nova genera et species plantarum (1815/16) oder Jabbo Oltmanns als Ko-Autor des Recueil d’observations astronomiques (1810). Das letztgenannte Buch wurde von Oltmanns selbst ins Deutsche übersetzt, was dazu führte, dass das französische Original und die im selben Jahr erschienene deutsche Version mit dem abweichenden Titel Untersuchungen über die Geographie des neuen Continents eher als „Bearbeitungsstufen desselben Werkes“ aufzufassen sind.20 Ähnliches gilt für die erste Buchpublikation zur Amerikareise, den Essai sur la géographie des plantes (1807), der mit der parallel erschienenen deutschen Version den Sonderfall einer von Humboldt vollständig ausgearbeiteten Selbstübersetzung darstellt.21 Ursprünglich hatte Humboldt geplant, alle Bände des Reisewerks sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch zu schreiben.22 Auch wenn er von dieser Absicht bald abrücken musste, blieb ihm die Einsichtnahme in die deutschen Übersetzungen ein wichtiges Anliegen, wobei mitunter philologisch nicht zu klären ist, ob Humboldt eine deutsche Fassung „selbst bearbeitet“ oder nur „beaufsichtigt“ hat.23 Fest steht aber, dass er, sofern möglich, seine Übersetzerinnen und Übersetzer auch in anderen Sprachen kontrollierte. Die eigentliche Reiseerzählung, die Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, hat eine komplexe Übersetzungsgeschichte, die, wie Ottmar Ette formuliert hat, eine Geschichte von „Surrogaten und Extrakten“ ist.24 Auch hier entstanden diverse konkurrierende Versionen, allerdings über einen längeren Zeitraum als bei der dritten Auflage der Ansichten. Mehr oder weniger zeitgleich, parallel fortlaufend mit den Lieferungen der französischen Erstausgabe zwischen 1814 und 1831, erschienen eine englische Übersetzung von Helen Maria Williams und eine anonyme deutsche. Für diese Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents, verfertigt wohl von Paulus Usteri und Ferdinand Gottlob Gmelin, vermutete Humboldt aus nicht vollständig zu klärenden Gründen Therese Huber als Verfasserin, ein Irrtum, der sich in der Forschung lange und „hartnäckig“ hielt.25 Wesentlich später, in den 1850er Jahren, traten Thomasina Ross mit einer englischen und Hermann Hauff mit einer deutschen Neuübersetzung an die Öffentlichkeit, wobei es sich im Fall von Ross eher um eine gründliche Revision der bereits vorliegenden handelte. An dieser Neufassung war Humboldt nicht beteiligt, während er die in Frankreich lebende erste englische Übersetzerin persönlich unterstützt, beraten und auch kontrolliert hatte.26 Umgekehrt war es bei den deutschen Übersetzungen: Hier kam die erste ohne Beteiligung Humboldts zustande, während er Hauff als Übersetzer der zweiten ausdrücklich befürwortete. Die von Humboldt verschiedentlich geäußerte Unzufriedenheit mit der Erstübersetzung27 machte sich Hauff in seiner Vorrede zu eigen: „ein nichtswürdiges Buch, das die Form des Originals häßlich verunstaltet“.28 Um so mehr betonte Hauff schon im Untertitel seiner 1859/60 erschienenen „deutsche[n] Bearbeitung“, dass es sich hier um die „Einzige von A. v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache“ handle und dass sie „[n]ach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers“ zustande gekommen sei. Humboldt selbst steuerte – als einen seiner letzten Texte überhaupt – ein auf den 26. März 1859 datiertes Vorwort zum ersten Band bei, in dem es heißt: „Einem wissenschaftlichen Reisenden kann es wohl nicht verargt werden, wenn er eine vollständige Uebersetzung seiner Arbeiten jeder auch noch so geschmackvollen Abkürzung derselben vorzieht.“29 Allerdings stellte gerade Hauffs Ausgabe eine solche Abkürzung dar, in der ganze Passagen und fast alle Anmerkungen weggelassen wurden.30 Nicht von ungefähr weist er sie im Titel ausdrücklich als Bearbeitung aus. Die inkriminierte Erstübersetzung hingegen ist vollständig und wurde in der Humboldt-Forschung seit den 1990er Jahren gewissermaßen rehabilitiert,31 zumal auffiel, dass Hauff neben den Kürzungen auch „eine Reihe von Übersetzungsfehlern und Ungenauigkeiten“ zu verantworten hatte.32 Für die Bearbeitungsgeschichte im späteren 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert blieb aber Hauffs Version maßgeblich, wobei der Umstand, dass es sich um eine Übersetzung handelte, oft unkenntlich gemacht wurde.33 Pointiert lässt sich sagen, dass Humboldts französische Relation historique hier „nur noch als (manipulierter) Bezugstext“ diente.34 Unter dem Gesichtspunkt der Übersetzung ist aus dem Reisewerk noch der Essai politique sur l’île de Cuba hervorzuheben. Bei der französischen Erstausgabe von 1826 handelte es sich um einen bloßen Separatabdruck einzelner Abschnitte der Relation historique. Die Einschätzung als eigenständiges Werk ist demnach erst ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte.35 Wie entscheidend für diese Wirkungsgeschichte die Übersetzungen sind, zeigt sich vor allem an der englischsprachigen Version, die 1856 in den Vereinigten Staaten erschien – also volle dreißig Jahre nach der französischen Ausgabe. Der Bearbeiter John S. Thrasher hatte allerdings mangels Sprachkenntnissen nicht das französische Original, sondern die spanische Übersetzung von 1827 zugrunde gelegt. Ähnlich nonchalant verfuhr er mit der Textgestalt, die er an mehreren Stellen der aktuellen politischen Stoßrichtung seiner Publikation unterordnete. Diese bestand darin, den Anspruch der Vereinigten Staaten auf Kuba zu legitimieren. Thrasher ging so weit, Humboldt für die Rechtfertigung der Sklaverei in Anspruch zu nehmen, was „ihm freilich nur dadurch möglich [war], daß er […] all jene Ausführungen, in denen sich Humboldt unmißverständlich gegen die Sklaverei auf Kuba wie auch in den Südstaaten der USA aussprach, ersatzlos entfernte“.36 Humboldt protestierte dagegen in einem offenen Brief, der seinerseits vielfach übersetzt und nachgedruckt wurde. Der gesamte Vorgang zeigt einmal mehr, wie groß Humboldts internationales Ansehen als wissenschaftliche und politische Autorität in seinen letzten Lebensjahren war.

Die Selbstübersetzung von 1807

Der Essai sur la géographie des plantes erschien als erstes Buch des amerikanischen Reisewerks 1807. Zeitgleich mit der Vorbereitung dieser Publikation hatte Humboldt eine deutsche Version des Textes erstellt, die im selben Jahr unter dem Titel Ideen zu einer Geographie der Pflanzen erschien. Die bei externen Übersetzungen immer auftretenden Probleme der Angemessenheit, Vollständigkeit und Autorisierung stellten sich im Fall dieser Selbstübersetzung so nicht – was bedeutet, dass sie sich anders stellten. Die von mehreren Übersetzern Humboldts betonte sorgfältige Kontrolltätigkeit des Autors musste sich hier als eine Art von Selbstkontrolle vollziehen. Dabei entfiel aber bis zu einem gewissen Maß die Verpflichtung auf eine ,Treue‘ zum Original. Die deutsche Übersetzung folgt diesem „keineswegs immer wörtlich, kürzt hin und wieder, um andererseits Passagen einzuschieben“ und ist daher nach Hanno Beck eher als eine „Bearbeitung“ zu bezeichnen.37 Beim Vergleich beider Fassungen fällt gleichwohl auf, wie präzise Humboldt seinen französischen Text über weiteste Strecken ins Deutsche übersetzt. Erst vor diesem Hintergrund profilieren sich die Abweichungen im Einzelnen.38 Grundsätzlich ist der Übergang zur Um- und Fortschreibung von Bedeutung für die Pragmatik wissenschaftlicher (wie auch literarischer) Selbstübersetzungen, also für ihre Machbarkeit und Brauchbarkeit zum Zweck des mehrsprachigen Schreibens.39 Ein auffallender Unterschied beider Versionen zeigt sich bei der Wahl der titelgebenden Gattungsbezeichnungen: Aus dem französischen Essai wird im Deutschen nicht etwa der Versuch, obwohl (oder weil) Humboldt zuvor bereits zwei Bücher mit dem Titelwort Versuche veröffentlicht hatte. Stattdessen wählt er die Ideen, einen Ausdruck, der vor allem an die zeitgenössischen philosophischen Debatten und Schreibweisen in Deutschland, etwa an Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) oder an Humboldts eigene „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“ (1806), anklingt.40 Nicht von ungefähr ergeben sich gerade in den stärker philosophischen Partien terminologische Unterschiede. So setzt Humboldt am Beginn der Vorrede dort, wo er im Französischen ankündigt, er wolle im vorliegenden Werk die „grands phénomènes“ der Natur in ihrem „ensemble“ darstellen, im Deutschen die semantisch abweichenden und anders aufgeladenen Ausdrücke „allgemeines Bild“ und „Naturgemälde“. An anderen Stellen – so schon im Untertitel – verdeutscht Humboldt mit dem Wort „Naturgemälde“ den französischen Ausdruck „tableau physique“, wobei ,tableau‘ neben ,Bild‘ oder ,Gemälde‘ noch ,Ansicht‘ bedeutet (wie in der Übersetzung der Ansichten der Natur als Tableaux de la nature), außerdem aber auch ,Tabelle‘ und ,Liste‘, entsprechend den langen botanischen Auflistungen, aus denen der Essai über weite Strecken besteht. Neben terminologischen Abweichungen unterscheiden sich die beiden Fassungen in zahlreichen grammatischen und syntaktischen Details. Sie sind teils dem unterschiedlichen Bau der Sprachen, teils aber auch dem Individualstil des Autor-Übersetzers geschuldet, der sich im Französischen und im Deutschen unterschiedlich ausprägt. Humboldt formuliert in der Vorrede zur französischen Version seine Vorsicht, ja geradezu Befangenheit in Fragen des Stils und der Stilreinheit: „C’est pour le style surtout que je dois réclamer cette indulgence [du public] : forcé depuis longtemps à m’exprimer en plusieurs langues qui ne sont pas plus les miennes que la françoise, je n’ose espérer de m’énoncer toujours avec cette pureté de style que l’on pourroit exiger dans un ouvrage écrit dans ma propre langue.“41 In dieser kurzen Bemerkung erscheint Mehrsprachigkeit als Zwangslage („forcé […] à m’exprimer en plusieurs langues“). Jenseits einer bloßen Bescheidenheitsgeste setzt Humboldt hier seine Geläufigkeit in mehreren Sprachen in ein gewisses Zwielicht. Allerdings fehlt die explizite stilistische Selbstkritik in der Vorrede zur deutschen Fassung. An ihrer Stelle findet sich eine Überlegung zum Verhältnis zweier Denkstile: empirisch-messender Naturforschung und spekulativer Naturphilosophie. In der Forschung ist die Ansicht vertreten worden, Humboldt habe sich mit den Ideen vor allem in Richtung Naturphilosophie orientiert und eine „im emphatischen Sinne ‚deutsche‘ Fassung“ vorgelegt, die sich „in den Zusammenhang des Idealismus und der literarischen Klassik in Deutschland“ einfügen sollte.42 In der Tat sprechen lexikalische und syntaktische Details dafür, dass „die Pflanzenwelt für das deutsche Publikum lebendiger und dynamischer dargestellt“ und der „Zusammenhang zwischen Natur- und Kulturgeschichte noch stärker herausgearbeitet wird als im Original“.43 Auch in der Einsetzung von Johann Wolfgang Goethe als Widmungsträger – im Kontrast zur Widmung an die französischen Botaniker Antoine-Laurent de Jussieu und René Desfontaines – zeigt sich das Interesse, „die Ideen über die Grenzen des botanischen Sachtextes hinaus zu treiben“.44 An der erwähnten Stelle der Vorrede unterstreicht Humboldt aber, dass er weniger der Naturphilosophie als vielmehr „der empirischen Naturforschung getreu“ sei, weshalb er „in diesem Werk die mannichfaltigen Erscheinungen mehr nebeneinander aufgezählt, als, eindringend in die Natur der Dinge, sie in ihrem inneren Zusammenwirken geschildert“ habe. Trotzdem ist er „weit von der Meynung entfernt, […] als sollten ewig Empiriker und Naturphilosophen als streitende Pole sich einander abstossen“.45 Auch in dieser Hinsicht befürwortet Humboldt also die übersetzende Vermittlung, ohne doch deren Schwierigkeiten zu verschweigen.
Abb. 1: Arabische Übersetzungen des Wortes ‚Sargasso‘ [Bildnachweis]

Übersetzungen der Schriften: Überblick

Im Textcorpus der vorliegenden Ausgabe finden sich Hunderte von Übersetzungen der Schriften Alexander von Humboldts: Vorträge und Briefe, Memoranden und Abhandlungen verschiedensten Zuschnitts. Wenn bereits für die selbständig erschienenen Werke gesagt werden kann, dass im Zuge ihrer Übersetzung „hybride Texte“46 entstanden seien, gilt dies um so mehr für die Schriften. Insgesamt war Humboldt an der internationalen Zirkulation seiner Forschungsergebnisse wesentlich mehr interessiert als an der Unversehrtheit einmal publizierter Arbeiten. Daher rührt der hochgradig reproduktive Charakter der Schriften mit einer Vielzahl von Nachdrucken in verschiedenen Sprachen, die teils auf Betreiben des Verfassers, teils ohne sein Zutun erschienen. Auf diese Weise kommen die ‚Bündel‘ von Texten zustande, die in dieser Ausgabe repräsentiert und in den Einzelkommentaren erläutert werden.47 Besonders komplex sind die Verwandtschaften zwischen den unselbständigen und den selbständigen Publikationen. Prinzipiell lassen sich Vorveröffentlichungen einzelner Partien eines Buchs von deren nachträglicher Auskopplung unterscheiden (wobei, wie im bereits erwähnten Fall des Essai politique sur l’île de Cuba, auch ganze Bücher aus Büchern gezogen werden konnten). Oft gingen aber auch Buchveröffentlichungen und unselbständige Teilpublikationen Hand in Hand, weshalb sich das Primat des einen oder anderen nicht immer genau bestimmen lässt. Außerdem haben manche der Humboldtschen Buchpublikationen ohnehin den Charakter von Textsammlungen. Die Ansichten der Natur wurden von Auflage zu Auflage um weitere Abhandlungen sowie Erläuterungen und Zusätze angereichert; die 1853 erschienenen Kleineren Schriften enthalten geognostische Vorträge und Aufsätze aus mehreren Jahrzehnten, einige davon „gänzlich umgearbeitet und mit vielen Zusätzen vermehrt“.48 All diese Verhältnisse vervielfältigen sich nochmals durch Übersetzungen, Überarbeitungen von Übersetzungen, konkurrierende Neuübersetzungen und eine Fülle von Nachdrucken. Bereits in den 1800er und 1810er Jahren, als die Ansichten der Natur ins Französische, die Relation historique und der Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne ins Deutsche und Englische übersetzt wurden, erschienen Auszüge aus diesen Werken sowohl in wissenschaftlichen als auch in populären Zeitschriften. Exemplarisch dafür mag die internationale Karriere einer einzelnen langen Anmerkung aus den Ansichten der Natur stehen. Sie wurde zunächst im Oktober 1807 als vierspaltiger Artikel unter der Überschrift „Ueber die erdefressenden Otomaken“ in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlicht und dort als Vorschau auf die „nächstens bey der J.G. Cotta’schen Buchhandlung“ erscheinenden Ansichten deklariert.49 Unabhängig von der Buchpublikation wurde der publikumswirksame Text, der eine südamerikanische „Sage von erdefressenden Menschen“ referiert, sie aber zugleich als empirischen Befund und „einfache Thatsache[ ]“ darstellt,50 bis in die 1850er Jahre Dutzende von Malen nachgedruckt. Bereits zwischen 1808 und 1810 erschienen französische, englische, italienische und niederländische Übersetzungen in so unterschiedlichen Periodika wie dem französischen Regierungsorgan Le Moniteur universel und dem Edinburgh Medical and Surgical Journal.51 Nur im Französischen und Niederländischen entstanden schon während dieser Zeit komplette Übersetzungen der Ansichten. Ansonsten hatte sich die Marginalie in ihrer durchaus problematischen Verbindung von anthropologischer Reflexion und Exotismusauf dem Weg der mehrsprachigen Zirkulation als eigenständiger Kurzaufsatz Humboldts etabliert. In hohem Maß veröffentlichungsgenerierend wirkten die Übersetzungen des Kosmos, der Ansichten und der Relation historique in den 1840er und 1850er Jahren, nicht zuletzt bedingt durch die bereits erwähnten konkurrierenden Versionen im englischen Sprachraum. Aus allen drei englischen Übersetzungen des Kosmos (Prichard, Sabine und Otté) sowie aus den Aspects of Nature (Sabine) und den Views of Nature (Otté und Bohn) erschienen Teile in britischen und US-amerikanischen Periodika, die mitunter bereits im Titel als Auszüge aus den jeweiligen Büchern gekennzeichnet waren. Als besonders geeignet erwiesen sich wirkungsvolle Passagen wie der kurze Abschnitt über die Erdbeben aus dem ersten Band des Kosmos (Band 1, S. 223–225), der 1845/46 (in der Prichard-Übersetzung) unter den Überschriften „Earthquakes“ und „First impression made by an earthquake“ in verschiedenen Publikumszeitschriften wie The Christian Miscellany (2 [1847], S. 194), The Bengal Catholic Herald (10:10 [1846], S. 140) oder The Leicestershire Mercury (19:927 [1854], o.S.) erschien und auch im deutschen Original sowie in französischer und niederländischer Fassung gesondert publiziert wurde.52 Das fortlaufende Erscheinen der fünf Bände des Kosmos und ihrer diversen Übersetzungen begünstigte die begleitende Publikation immer neuer Auszüge. Neben diesen erschienen aber auch eigens für Zeitschriften angefertigte Übersetzungen. So brachte 1846 die Gazzetta della Provincia di Lodi e Crema umfangreiche Partien aus dem ersten Kosmos-Band mit ausdrücklicher Nennung des Übersetzers („Traduzione dal tedesco di G. Rato“), während um dieselbe Zeit die vollständige Übersetzung des Buchs ins Italienische (durch Giulio Valli und Vincenzo Lazari) veranstaltet wurde. Die chilenische Revista de Santiago enthielt 1850 Teile des Vorworts und der Einleitung sowie wiederum den Abschnitt über die Erdbeben („Los temblores“) in eigener redaktioneller Übersetzung („Traducido para la revista“), unabhängig von der 1851/52 in Madrid und Mexiko erscheinenden Buchübersetzung.53 Unter den von vornherein als Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel konzipierten Schriften Humboldts fanden die Wortmeldungen zu aktuellen Fragen besonders große und mehrsprachige Verbreitung. Eines seiner Voten für ein Panamakanalprojekt, 1853 publiziert – bezeichnenderweise u. a. in der Zeitschrift Cosmos, die ihren Namen unmittelbar von Humboldts Werk herleitete –, wurde in englischer Übersetzung nicht nur im Panama Herald, sondern in mehr als dreißig australischen, amerikanischen und englischen Periodika sowie auf Deutsch in der Allgemeinen Zeitung und der Eisenbahn-Zeitung gedruckt.54 Der öffentlichkeitswirksame abolitionistische Brief an den Politiker und Diplomaten Julius Fröbel erschien 1858 mit der Überschrift „Baron Humboldt on American Slavery“ und der Kennzeichnung „private letter“ zuerst in englischer Übersetzung in diversen amerikanischen Zeitungen, bevor der Originalbrief in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert und dann mehrmals nachgedruckt wurde.55 Einen offenen Brief an den Mathematiker Chaim Seligman Slonimski, eine der zahlreichen Stellungnahmen Humboldts für die Gleichstellung der Juden in Preußen, ließ er, ebenfalls 1858, nach der deutschsprachigen Erstpublikation programmatisch auch in hebräischer Übersetzung erscheinen. An diesen Beispielen zeigt sich, dass die politisch-publizistische Erscheinung des späten Humboldt als „unbequeme[r] Greis“56 aufs engste mit Mehrsprachigkeit und Übersetzung verknüpft war. Was die Anzahl (nicht den Umfang) der Texte im Corpus der Schriften angeht, nehmen Deutsch, Englisch und Französisch zufolge der Pilotstudie von Sarah Bärtschi zusammen fast sieben Achtel ein. Jeweils rund drei Dutzend Texte erschienen auf Russisch, Spanisch, Niederländisch und Italienisch, rund ein Dutzend auf Ungarisch; für alle weiteren Sprachen (Portugiesisch, Polnisch, Hebräisch sowie die skandinavischen Sprachen) sind nur „vereinzelte Drucke“ nachweisbar.57 Zur genaueren Gewichtung schlägt Bärtschi ein Stufenmodell vor, das die Verselbständigung der Texte gegenüber dem Autor darstellt. Auf einer ersten Stufe stehen demnach die Texte, die er selbst in einer seiner Publikationssprachen (Deutsch, Französisch, Latein) verfertigte. Es folgen Übersetzungen vom Deutschen ins Französische und umgekehrt, als nächstes Übersetzungen in Sprachen, in denen Humboldt zwar nicht selbst publizierte, die er aber kontrollieren konnte (vor allem Englisch und Spanisch), schließlich Sprachen, die er nicht sprach (z. B. Ungarisch). Mit jeder Stufe „potenziert sich die Reichweite von Humboldts Forschung“, und zugleich „entzieht sich ihm von Stufe zu Stufe die Kontrolle über die Texte“.58 Je weiter also die Publikation vom Autor wegrückt und sich ihm gegenüber gleichsam verselbständigt, um so größer wird die Rolle der übrigen Akteure und Institutionen: Übersetzer und Herausgeber, Redaktionen und Verlage. Damit ergibt sich eine wesentliche Differenz zwischen den selbständigen und den unselbständigen Veröffentlichungen: Während Humboldt „bei seinen Buchwerken als großer Publikationsstratege galt“, konnte er angesichts der wesentlich unüberschaubareren Verhältnisse bei den unselbständig erschienenen Schriften „seine Publikationen und mithin ihre Publikationssprachen nur bis zu einem gewissen Grad steuern“.59 Dennoch finden sich auch in den Übersetzungen der Schriften mitunter Formulierungen, in denen die persönliche Autorisierung durch den Verfasser beansprucht wird. Anders als in den Buchveröffentlichungen handelt es sich dabei in der Regel nicht um Vorreden, sondern um knappe Hinweise in Untertiteln oder Fußnoten. Dort heißt es dann etwa, Humboldt habe die betreffende Arbeit begutachtet, revidiert oder gar angefordert: „Traduit de l’allemand sous les yeux de l’auteur par L.[éon] Lalanne“,60 „Cette traduction a été revue par M. de Humboldt“61 „Translated from the German, and communicated, at the request of the Author, by Dr Martin Barry“.62 Im selben Zusammenhang stehen oft bibliographische Hinweise zur Herkunft des Originals und zu dessen materiellem oder publizistischem Transfer: „Cette lettre […] a été communiquée manuscrite au citoyen Guyton, par le citoyen Van-Mons“,63 „Nach einem einzelnen Abdruck aus den Ann. de Chim. et de Phys., den ich dem Verf. verdanke, frei übersetzt von [Ludwig Wilhelm] Gilb[ert]“.64 In den zitierten Beispielen fällt auf, dass die Übersetzer und Übermittler zusammen mit dem Namen Humboldts ihren eigenen nennen. Dies ist deshalb besonders zu betonen, weil bei den zeitgenössischen Übersetzungen nur in ca. 5% der Texte die Übersetzer überhaupt namentlich genannt werden. Offenbar erlaubte also gerade die Berufung auf und die Beaufsichtigung durch den Verfasser des Originals den Übersetzern der Schriften – teils jüngeren Fachwissenschaftlern, teils Redakteuren oder Herausgebern der jeweiligen Zeitschriften –, aus der bloßen Funktionalität und damit auch aus der Anonymität herauszutreten.65 Was die Beziehung zwischen Humboldts eigenen Publikationssprachen Deutsch und Französisch betrifft, überschneiden sich Übersetzungsfragen mit solchen des mehrsprachigen Veröffentlichens. Die daraus resultierenden Verhältnisse hat Bärtschi anhand der Vorträge, die Humboldt von Ende 1804 bis 1810 am Pariser Institut National des Sciences et des Arts und an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin hielt, zahlenmäßig erfasst. Publiziert wurde die Hälfte der Berliner Akademiereden (drei von sechs), aber nur ein Drittel der Pariser Vorträge (vier von 13). Die französischen Veröffentlichungen wurden hingegen häufiger nachgedruckt als die deutschen. Übersetzungen gab es nur in einer Richtung: „Sämtliche der französischsprachigen Vorträge, die als Periodicadruck erschienen, wurden ins Deutsche übersetzt, während keine der deutschsprachigen ins Französische übertragen wurde.“66 Letzteres kann als Indiz dafür gelten, dass Humboldt im deutschen Sprachraum auf dem Wege der Übersetzung als deutscher Autor präsent blieb. Zugleich wurde so die Zirkulation wissenschaftlichen Wissens vom Französischen ins Deutsche erleichtert, so dass das Übersetzen eine wichtige Rolle für den Wissenstransfer und für die „‚Demokratisierung‘ der Wissenschaft67 insbesondere in Preußen spielte.

Übersetzungen der Schriften: Einzelne Aspekte

Die Messungen, die Humboldts Werk prägen und strukturieren, nehmen auch in den Übersetzungen eine wichtige Funktion ein. Wie grundlegend dies ist, zeigt sich etwa daran, dass Elizabeth J. Sabine ihre Vorbemerkung zu den Aspects of Nature darauf reduziert, den Umgang mit den Maßeinheiten für Temperaturen und Entfernungen zu erläutern: Sie habe zwar in Fahrenheit und English Feet umgerechnet, aber die „original figures“ in Réaumur und Toisen beibehalten. Ebenso habe sie die Zählung der Längengrade von Paris auf Greenwich umgestellt, aber „in particular cases“ die von Humboldt verwendete Pariser Zählung hinzugefügt.68 Für die Übersetzungen der Schriften ins Englische spielen derlei Umrechnungen prinzipiell eine Rolle. So setzt Martin Barry in seiner Fassung des Chimborazo-Berichts, erschienen 1837 im Edinburgh new Philosophical Journal, zwei erste Fußnoten, in denen er auf fünf bis sechs Stellen nach dem Komma präzise umrechnet: „One French foot is — 1.08892, or about 11/13 English. — Tr.[anslator]“; „A toise is — 1.94904 metres, or 6.39459 feet. — Tr.“69 Das hinzutretende metrische System ist deshalb von Bedeutung, weil Humboldt bereits in seinem deutschen Originaltext manchmal mehrere Maßeinheiten miteinander abgleicht und dabei zusätzlich Messabweichungen erwähnt. So gibt er die Höhe der Ebene von Tapia mit „8898 Pariser Fuss (1483 Toisen)“ an und fügt in einer Fußnote hinzu: „Also 2890 Meter; Boussingault fand 2870 Meter und nach der Erdwärme die mittlere Temperatur der Hochebene von Tapia 16,4° C.“70 Barry gibt in der englischen Übersetzung alle Zahlen getreu wieder, schließt aber noch die Umrechnung der Temperaturangabe in Fahrenheit an und ergänzt in einer späteren Fußnote: „(The equivalent degree of Fahrenheit have [sic] been since added — TR.)“71 Die Übersetzung als Umrechnung ist zwar eine Nullstufe hinsichtlich semantischer Unterschiede, aber zugleich eine potenzielle Fehlerquelle, so dass hier besondere Aufmerksamkeit seitens der Übersetzer erforderlich ist: „precaution where accuracy is important“.72 Jenseits der Umrechnung von Zahlen öffnet sich das weite Feld der sprachlichen Äquivalenzbildungen, auf dem Genauigkeit bekanntlich wesentlich schwieriger zu erreichen ist. Dies gilt zunächst für Fragen der Terminologie, die für die zahlreichen von Humboldt bearbeiteten Disziplinen von großer Bedeutung sind. Als Beispiel herausgegriffen sei die von Léon Lalanne 1839 für die Annales des mines angefertigte Übersetzung des Aufsatzes „Geognostische und physikalische Beobachtungen über die Vulkane des Hochlandes von Quito“ (der wiederum auf einen mehrteiligen Berliner Akademievortrag Humboldts zurückging).73 Der Übersetzer markiert gleich zu Beginn eine terminologische Spezifik des Deutschen, die sich für ihn so nicht ins Französische übertragen lässt. Humboldts Aufsatz setzt ein: „Wenn Vulkanismus im weitesten Sinne des Worts alle Erscheinungen bezeichnet, die […]“.74 Lalanne übersetzt: „Si l’on attribue à l’action volcanique, dans le sens le plus étendu de cette expression, tous les phénomènes qui […]“.75 Aus dem Wort „Vulkanismus“ wird der Ausdruck „l’action volcanique“, deren Sinn in der Tat weitläufiger, jedenfalls weniger festgelegt ist als der von „Vulkanismus“. Denn dieses Wort bezieht sich auf eine spezifisch deutsche Debatte, auf die der Übersetzer seinerseits hinweist, indem er in einer Fußnote den von ihm gewählten Ausdruck action volcanique wie folgt erklärt: „Littéralement vulcanisme, le volkanismus que les géologues allemands opposent au neptunisme.“ Die gesamte Vulkanismus-Neptunismus-Debatte, an der Humboldt selbst teilhatte, wird vom Übersetzer mit dieser Anmerkung – und mit dem fast betont ungelenken, weder deutschen noch französischen Wort „volkanismus“ – einerseits zitiert, andererseits als nicht wirklich zur Sache gehörig abgetan. Diese Übersetzung eines überdeterminierten Wortes durch eine weniger belastete „expression“ hat Humboldt offenbar selbst abgesegnet, denn auch in diesem Fall gilt: „Cette traduction a été revue par M. de Humboldt.“76 Mit solchen terminologischen und sonstigen lexikalischen (Um-)Entscheidungen hängt das zugleich technische und ethische Problem der Freiheit einer Übersetzung zusammen. Gleich zweimal ist es der Physiker Ludwig Wilhelm Gilbert, der betont, sich Freiheiten herausgenommen zu haben: Sowohl der „Versuch über die astronomische Strahlenbrechung“ (1809, Übersetzung des „Essai sur les réfractions astronomiques“, 1808) als auch „Über die zunehmende Stärke des Schalls in der Nacht“ (1820, Übersetzung von „Sur l’Accroissement nocturne de l’intensité du son“, 1820) sollen, so die Kennzeichnungen in den Überschriften, „frei übersetzt“ worden sein.77 Allerdings finden sich in den deutschen Versionen keine auffälligen Änderungen oder Abweichungen gegenüber den französischen Originalen. Der Begriff ‚Freiheit‘ scheint daher eher der Absicherung des Übersetzers angesichts möglicher Fehler zu dienen. Ähnlich verhält es sich mit der Kennzeichnung „Fast wörtlich übersetzt“ in der deutschen Fassung einer pflanzengeographischen Schrift Humboldts („Sur les lois que l’on observe dans la distribution des formes végétales“), die als Einleitung zu einer Neuausgabe der Pflanzengeographie erschien.78 Bei der Markierung der „fast“ gelungenen wörtlichen Übersetzung handelt es sich offenbar ebenfalls eher um eine Vorsichtsmaßnahme als um eine Unabhängigkeitserklärung des Übersetzers. In der Regel belassen es die Übersetzer der Schriften bei solchen knappen, andeutenden paratextuellen Hinweisen. Eine Ausnahme ist die französische Version von Humboldts Abhandlung „Ueber die Schwankungen der Goldproduktion mit Rücksicht auf staatswirthschaftliche Probleme“ (1838), zehn Jahre nach der Erstpublikation übersetzt als „Un mémoire sur la production de l’or et de l’argent, considerée dans ses fluctuations“ (1848), erschienen im Journal des économistes und versehen mit einer ausführlichen Einleitung des liberalen Ökonomen Michel Chevalier. Humboldt selbst hatte sich in seinem Aufsatz an einer Stelle auf Chevalier bezogen,79 der somit nun in eine Art von verspätetem Dialog eintritt. Entscheidend dafür soll die fortgesetzte Gültigkeit von Humboldts Äußerungen zum Geld-, Metall- und Warenhandel sein, die sich, so der Herausgeber, in den zehn Jahren seit dem ersten Erscheinen als vorausschauend erwiesen hätten.80 Mit der starken editorischen Rahmung wird der Originaltext bei aller Aktualitätsbekundung aber auch historisiert und in gewisser Weise zum Klassiker erhoben, angesichts dessen der Vorredner höflich zurücktritt („Je me tais, maintenant, pour laisser parler M. de Humboldt“) und dem er philologische Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, indem er einen besonders fleißigen und befähigten Nachwuchswissenschaftler mit der Übersetzung betraut („traduit avec beaucoup de soin par un de nos élèves les plus assidus et les plus intelligents, M. Michel Rempp“).81

Forschung und Rezeption

Dass Humboldt ein mehrsprachiger, übersetzter und sich selbst übersetzender Autor war, blieb in der Forschung und in der breiteren Rezeption oft unterbelichtet. In Deutschland beruhte die Wahrnehmung Humboldts, bedingt durch das Paradigma der Nationalliteratur und -kultur, lange Zeit auf seiner Fehleinschätzung als vorrangig deutschsprachiger Autor. Demgegenüber wurde der wesentliche Anteil, den Übersetzungen an der Konstruktion dieser deutschen Autorschaft hatten, vielfachunterschätzt, wie insbesondere Ottmar Ette hervorgehoben hat.82 Zu ergänzen ist, dass die Rezeption auch in anderen Ländern über weite Strecken an Phänomenen der Mehr- und Anderssprachigkeit eher wenig interessiert gewesen ist. In französischer Sicht dominierte der französischsprachige Humboldt; im angloamerikanischen Raum wurden vorzugsweise die englischsprachigen Übersetzungen rezipiert; in Lateinamerika entstand ein spezifisches Humboldt-Bild, das wiederum auf die Rezeption in Spanien zurückwirkte.83 So ergibt sich ein paradoxer Eindruck: Gerade der Umstand, dass Humboldt international publizierte und zu Lebzeiten extensiv übersetzt wurde, ermöglichte das Zustandekommen verschiedener nationaler oder regionaler Rezeptionslinien mit den entsprechenden Verkürzungen. Demgegenüber werden in der Rezeption seit der Jahrtausendwende zum einen Elemente der deutsch-französischen Verflechtungsgeschichte betont,84 zum anderen die Internationalität und Globalität Alexander von Humboldts. Für die eingangs bereits erwähnten, auf ein breiteres Lesepublikum zielenden Bücher, die sich mit Humboldts Weltbezügen befassen, gehören Mehrsprachigkeit und Übersetzung zwar nicht zu den vorrangig interessanten Themen, werden aber doch zumindest in Rechnung gestellt – etwa im bibliographischen Anhang zu Andrea Wulfs Humboldt-Biographie,85 der bei aller Knappheit den Stellenwert des Übersetzens deutlich hervorhebt. Ottmar Ette versteht das bei Humboldt aufgewiesene „Weltbewußtsein“ und die durch ihn vertretene Art von „Globalisierung“ entschieden im Sinne der Mehrsprachigkeit.86 Und für die Untersuchung der konkreten Schreibweisen und schriftstellerischen Praktiken Humboldts sind „Universalismus, Kosmopolitismus, Mehrsprachigkeit“ eng aufeinander bezogene Kategorien.87 Mit der Bibliographie Alexander von Humboldts Schriften von Horst Fiedler und Ulrike Leitner (2000) ist Humboldt in seiner Vielsprachigkeit und Übersetztheit detailliert aufgeschlüsselt worden.88 Seither kann die Berücksichtigung der Übersetzungen als Standard der Forschung gelten.89 Auch wenn dies bislang vorwiegend noch für Humboldts Buchpublikationen gilt, hat die jüngste Forschung mit ihrem Interesse an der Materialität der Schrift und der Komplexität der Textgenese darüber hinaus auch die Funktionen von Mehrsprachigkeit in Humboldts Schreibprozess untersucht, insbesondere im Hinblick auf die amerikanischen Reisetagebücher mit ihrem fortwährenden Wechsel zwischen Deutsch und Französisch. Dabei fällt auf, dass „zunächst überwiegend in deutscher Sprache“ notiert wird, im Verlauf der Reise aber „das Französische immer stärker an die Stelle des Deutschen rückt“.90 Es scheint also weniger ein Fall von Bilingualität als der einer wechselseitigen Exophonie beider Sprachen vorzuliegen. Da aber außerdem auch immer wieder spanische, lateinische und indigene Bestandteile verwendet werden, spricht einiges für die Annahme eines tatsächlich „vielsprachigen Schreibens“.91 Vor diesem Hintergrund ist auch das Um- und Einarbeiten der Tagebücher ins Reisewerk (z. B. in die Relation historique mit ihrem Wechsel von rückblickender Darstellung und Tagebuchzitaten) als Gattungs- und Medienwechsel unter einem erweiterten Übersetzungsbegriff zu diskutieren, ebenso wie Humboldts eigene materielle Aufbereitung der Tagebücher (Kompilation, Bindung, Vorbereitung für den Nachlass), in der „vermittels einer Übersetzung“ aus den Dokumenten „die Humboldt vor, während und nach der Reise bei sich trug“, das „kulturelle Artefakt“ wurde, „mit dem wir es heute zu tun haben.“92 In einer Passage seines Romans Die Vermessung der Welt (2005) thematisiert Daniel Kehlmann das Übersetzungsproblem auf witzige Weise, als Humboldt bei der Fahrt auf dem Rio Negro gebeten wird, „auch einmal etwas zu erzählen.“ Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt. Ja wie, fragte Bonpland. Humboldt griff nach dem Sextanten.93 Das von Kehlmann wohl gezielt anachronistisch eingesetzte Goethe-Gedicht (geschrieben 1780, aber erst 1815 unter dem Titel „Ein gleiches“ gedruckt) wird der Handlungsfiktion nach von Humboldt aus dem Deutschen „frei ins Spanische übersetzt“, dann aber in der Erzählfiktion vom Erzähler wieder ins Deutsche zurückübersetzt, so dass letztlich eine Übersetzung von Goethes Gedicht aus dem Deutschen ins Deutsche vorliegt. Dabei werden fast alle Wörter des Gedichts durch semantisch ähnliche, aber klanglich unähnliche Wörter ersetzt („Bergspitzen“ statt „Gipfel“, „werde man tot sein“ statt „ruhest du auch“). Außerdem wird der Gedichtvortrag in die indirekte Prosarede des Romantexts übersetzt, ironischerweise unter Hervorhebung von Humboldts Abneigung gegen das Erzählen. Bei all dem erscheint Kehlmanns Humboldt weniger als Kosmopolit denn als Inbegriff von pedantischer, bornierter ‚Deutschheit‘ – selbst in Momenten des Kulturtransfers durch Übersetzung.

Weitere Perspektiven

Humboldts Leben und Schreiben zwischen den Sprachen bietet Anlass zum Nachdenken über den Stellenwert von Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der heutigen globalisierten Welt – innerhalb wie außerhalb der scientific community. So zeigt der kontext- und situationsabhängige Wechsel zwischen seinen Leitsprachen Deutsch und Französisch ebenso wie der fortgesetzte Einfluss, den er auf Zuschnitt und Machart der Übersetzungen in andere Sprachen ausübte, wie sehr Anders- und Fremdsprachigkeit strategisch eingesetzt werden können und wie fließend die Übergänge zwischen Exophonie und Bilingualität sind. Die Frage, welche der verwendeten Sprachen die eigene ist und welche als die anderen zu gelten haben, lässt sich daher flexibel beantworten. Damit löst sich Sprachigkeit bis zu einem gewissen Grad von kultureller Identität ab und scheint mitunter fast auf einen instrumentellen Status reduziert zu werden. Allerdings sind Übersetzung und Mehrsprachigkeit bei Humboldt niemals rein funktional zu verstehen. Sie betreffen nicht die bloße Distribution und Zirkulation wissenschaftlicher Ergebnisse, die als solche außersprachlich zu gewinnen wären, sondern sie liefern Argumente für eine grundsätzliche Sprachabhängigkeit des Wissens, durchaus im Sinn des Zusammenhangs von Sprache und ‚Weltansicht‘, wie er von Wilhelm von Humboldt vertreten wurde.94 Daher ist auch Alexander von Humboldts Vorsicht im Umgang mit den Sprachen ernst zu nehmen, etwa in der bereits erwähnten Reflexion über den Stil des Denkens und Schreibens im Kontext seiner Selbstübersetzung. Hier artikuliert sich die „berechtigte Besorgnis“ eines Autors, der „bis zuletzt seine französischen und seine deutschen Schriften nicht nur in fachlicher, sondern auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht gegenlesen ließ“.95 ‚Berechtigt‘ ist die Besorgnis insofern, als das enge Wechselverhältnis zwischen Fachlichkeit und Stil jede Übersetzung zusätzlich verkompliziert. Es zeichnet Humboldt aus, dass er trotzdem im Zweifelsfall immer für die Übersetzung votierte.

Abbildung

Abb. 1: Arabische Übersetzungen des Wortes ‚Sargasso‘. © BJ Krakau Nachlass Alexander von Humboldt Band 9/1, Blatt 229–230. Online unter jbc.bj.uj.edu.pl (03.05.2021).

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