Digitale Ausgabe – Einführungskommentar

Lettre à L’Auteur de cette Feuille; sur le Bohon-Upas, par un jeune Gentilhomme de cette ville

in: Gazette littéraire de Berlin 1270 (5. Januar 1789), S. 4–8; 1271 (12. Januar 1789), S. 11–13. „Ueber den Bohon Uppas“, übersetzt von [Friedrich Albrecht Anton?] Meyer, in: Olla Potrida 2 (1790), S. 70–78. Humboldts erste Publikation erschien im Revolutionsjahr 1789. Es ist Humboldts einziger Artikel in der Gazette littéraire de Berlin, einer französischsprachigen Zeitschrift, die in Berlin herausgegeben wurde. Der Text stellt die frankophone Besprechung der lateinischen Dissertation des schwedischen Botanikers Carl Peter Thunberg (1743–1828) dar, Humboldt selbst bezeichnet ihn als Übersetzung. Ob Thunberg zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von Humboldts kommentierender Übertragung hatte, ist nicht bekannt; rund zwei Jahre nach Erscheinen des Textes schreibt Humboldt als Nachtrag in einem Brief an Thunberg: „J’ai traduit, il y a presque deux ans, votre belle Dissert. de Arbore toxicaria Macassar. en français. Je manque d’exemplaires pour vous en présenter.“ (Jugendbriefe, S. 125.) Der Text wird im Titel als Brief („Lettre“) an den Herausgeber der Gazette („L’Auteur de cette Feuille“) angekündigt und ist auf den 1. Januar 1789 datiert. Der Herausgeber und Empfänger des Briefes war Claude Étienne Le Bauld de Nans (1735–1792), ein Hauslehrer der Brüder Humboldt. Erschienen ist der Text als Fortsetzung in zwei Teilen und nicht unter Humboldts Namen, sondern anonym mit dem Hinweis „par un jeune Gentilhomme de cette ville“, autorisiert ist er aber durch den Brief an Thunberg und mehrere Selbstzitationen in Humboldts Schriften und Monographien. Offenkundig wird Humboldts Autorschaft auch durch eine Übersetzung ins Deutsche, die im Folgejahr in der von Heinrich August Ottokar Reichard (1751–1828) ebenfalls in Berlin herausgegebenen Zeitschrift Olla Potrida erschien. Der Übersetzer, der mit „Meyer“ zeichnet, schreibt in seiner kurzen Einleitung ausdrücklich, „Herr von Humboldt der jüngere“ (S. 70) habe ihm das französische Manuskript brieflich geschickt und er habe es mit dessen Einverständnis unter Weglassung einiger Stellen, die Le Bauld de Nans gegolten hätten, vollständig übersetzt. Möglicherweise handelt es sich beim Übersetzer, der die Veröffentlichung in der Olla Potrida wohl selbst vermittelt hat, um Friedrich Albrecht Anton Meyer (1768–1795). Er war fast genauso alt wie Humboldt, Mediziner und Zoologe an der Universität Göttingen (was den Hinweis auf Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) und den Göttinger Taschenkalender in seiner Einleitung erklären könnte) und hat in der Olla Potrida über Jahre diverse Abhandlungen und literarische Texte veröffentlicht (auch in derselben Ausgabe wie die Bohon-Upas-Übersetzung). Humboldt war seit seiner Studienzeit in Göttingen mit Meyer bekannt. Selbstzitationen, welche die Autorschaft des Artikels belegen: Alexander von Humboldt, „Ueber Grubenwetter und die Verbreitung des Kohlenstoffs in geognostischer Hinsicht“, in: Chemische Annalen 12:2:8 (1795), S. 99–119, hier: S. 106. – Alexander von Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, 2 Bände, Posen: Decker und Compagnie / Berlin: Heinrich August Rottmann 1797, Band II, S. 141. – Alexander von Humboldt, Ueber die unterirdischen Gasarten und die Mittel ihren Nachtheil zu vermindern, Braunschweig: Friedrich Vieweg 1799, S. 376.

Fernweh

Im zweiten Band des Kosmos (1847) erinnert sich Humboldt, dass ein Drachenbaum im Botanischen Garten von Berlin seine Sehnsucht nach Forschungsreisen entfacht habe. Schon früh begann er, sich für botanische Schriften zu interessieren. So las er auch die 11-seitige lateinische Abhandlung Arbor toxicaria Macassariensis von Carl Peter Thunberg, die 1788 in Uppsala erschienen war. Der schwedische Botaniker hatte mehrere Forschungsreisen unternommen, unter anderem nach Südafrika, Niederländisch-Ostindien und Japan. Nach dem Tod von Carl von Linné dem Jüngeren (1741–1783), der als Nachfolger seines berühmten Vaters (1707–1778) Professor der Botanik in Uppsala wurde, übernahm Thunberg 1784 Linnés Lehrstuhl. Durch die Besprechung von Thunbergs Schrift machte sich Humboldt mit der Arbeit eines einflussreichen Botanikers vertraut. Zudem beförderte die Beschäftigung mit einem indonesischen Giftbaum Humboldts Sehnsucht nach einer eigenen Forschungsreise; sein Text endet sogar mit dem Hinweis, dass eine neue Expedition dringend notwendig sei („nous devons souhaiter que les Voyageurs instruits veuillent ajouter à ces observations“). Vorerst vom Schreibtisch aus begann Humboldt in der Theorie und anhand der Zeugnisse anderer Reisender, was er später durch eigene Anschauung und empirische Forschung selbst weiterführen sollte: die Widerlegung verbreiteter Mythen im Zusammenhang mit giftigen Substanzen, etwa wenn er später auf seiner Amerika-Reise mit dem aus pflanzlichen Substanzen hergestellten Pfeilgift Curare experimentierte (vgl. Kommentar IV.20).

Kolonialismus

Der Bohon-Upas ist ein Giftbaum auf den Inseln Sulawesi, Borneo, Java und Sumatra im heutigen Indonesien, über den seinerzeit fabelhafte Gerüchte kursierten: Vögel, die ihn überflögen, würden tot zu Boden fallen; wenn man unter ihm hindurchliefe, gingen einem die Haare aus. Der exotische Gegenstand faszinierte die Zeitgenossen. Erasmus Darwin zum Beispiel, Charles Darwins Großvater, setzte sich mit dem „Hydra-Tree of Death“ in seinem annotierten Naturgedicht The Loves of the Plants (1789) literarisch und wissenschaftlich auseinander. Humboldt bezieht sich auf einen Beitrag in einer vorangegangenen Ausgabe der Gazette, der „tant de choses merveilleuses“ berichtet habe, „qu’on était presque tenté de les taxer de fables“ – „so viele verwunderliche Dinge, dass man versucht war, sie für Fabeln zu halten“. Dies veranlasste ihn zu einem näheren Studium der Schrift von Thunberg, der solche Fabeln nicht als erwiesene Wahrheiten anzusehen schien. Ähnlich wie später beim Pfeilgift Curare geht es Humboldt um die Widerlegung überlieferter Mythen. An Thunbergs Forschung hebt er hervor, dass dieser im Gegensatz zu anderen Autoren die Gegenstände, über die er schreibt, aus eigener Anschauung und durch ein intensives Naturstudium kenne – ihm dürfe man daher vertrauen. Humboldt kritisiert in seinem Text den europäischen Kolonialismus und dessen Weltanschauung, die durch „abergläubische“ („superstitieux“) oder „böswillige“ („mal intentionnés“) Reisende verbreitet würde. So kursierte in der damaligen Reiseliteratur das Gerücht, im weiten Umkreis des exotischen Giftbaums sei kein Leben möglich. Dies sei, mit Thunberg, auf das Interesse der Priester zurückzuführen, die Indigenen zu täuschen und in Angst zu versetzen. Diese wiederum nutzten die toxische Substanz im Widerstand gegen die europäischen Invasoren. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Diskursen des Kolonialismus hat Oliver Lubrich als eine Konstante in Humboldts Schriften ausgewiesen, die „[v]on der ersten bis zur letzten Veröffentlichung“ (1789–1859) wirksam ist.

Kontinuität

Humboldts erste Veröffentlichung ist auch in zwei weiteren Hinsichten programmatisch für seine Publikationsbiographie. Sie zeigt erstens räumlich und sprachlich eine breite Perspektive: Sie erschien in Berlin auf Französisch. Es handelt sich um eine kommentierende Übersetzung der lateinischen Dissertation des schwedischen Botanikers Carl Peter Thunberg, erschienen in Uppsala, über einen Giftbaum auf Java, in einer niederländischen Kolonie. Mehrsprachigkeit und ein Kontinente übergreifendes Verständnis von Wissenschaft sind wesentliche Merkmale von Humboldts Schreib- und Publikationspraxis. Zweitens berührt Humboldt bereits in seiner ersten Abhandlung mehrere Wissensgebiete: Neben der Botanik sind dies die Chemie (Giftstoffe des Baums) und die Medizin (Gegenmittel), aber auch Ethnologie (Gewinnung des Gifts) und die Geschichte (Einsatz als Waffe gegen die europäischen Invasoren) (vgl. Lubrich 2018, S. 124). Diese multiperspektivische Herangehensweise an einen Forschungsgegenstand wird Humboldt lebenslang fortführen. Carl Peter Thunberg, Arbor toxicaria Macassariensis, Uppsala: Johannes Edman 1788. – „Relation extraite d’une lettre de M. N. P. Foersch, Hollandois […], sur le Bohon Upas & l’effet terrible de son poison“, in: Gazette littéraire de l’Europe 8 (August 1785), S. 431–438. – [Erasmus Darwin, zunächst anonym:] The Botanic Garden, Part II: Containing The Loves of the Plants, a Poem: With Philosophical Notes, Lichfield: Johnson 1789. (The Poetical Works of Erasmus Darwin, 3 Bände, Band 2: The Loves of the Plants, London: Johnson 1806, S. 143–145, 185, 246–247.) – Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bände, Stuttgart/Tübingen: J. G. Cotta 1845–1862, Band II (1847), S. 5. – Hanno Beck, Alexander von Humboldt, 2 Bände, Wiesbaden: Franz Steiner 1959/1961, Band 1, S. 17, Anmerkung: S. 239. – François Labbé, Gazette littéraire de Berlin (1764–1792), Paris: Honoré Champion 2004, S. 65, 184, 413. – Rezipiert wird Humboldts Beitrag unter anderem in: Carl Alexander Ferdinand Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, als Heilmittel. Erster, oder theoretischer Teil, Wien: Haas 1815, S. 244. – Oliver Lubrich, „Von der ersten bis zur letzten Veröffentlichung. Alexander von Humboldts „Sämtliche Schriften“ in der ‚Berner Ausgabe‘“, in: Zeitschrift für Germanistik 28:1 (2018), S. 119–130. – Oliver Lubrich und Adrian Möhl, Botanik in Bewegung. Alexander von Humboldt und die Wissenschaft der Pflanzen. Ein interdisziplinärer Parcours, Bern: Haupt 2019, S. 17–27, Anmerkungen: S. 254.

Altsprachliche Anteile

  • [dtv, S. 17] S. 7, Fußnote: „Menstruum nempe muliebre huic misceri veneno dicitur, atque in eum finem Macassariensium fæminas bracteis indutas esse, in quibus istud colligebant.“ (Georg Eberhard Rumpf, Herbarium Amboinense, Amsterdam 1741, S. 266.)
  • = „Man sagt nämlich, dass das weibliche Monatsblut mit diesem Gift vermischt wird, und zu diesem Zweck würden die Frauen der Makassarier Metallplättchen tragen, in denen sie es sammelten.“